Zucker-Koma wegen Gentech-Insulin
Pharmafirmen erfinden immer mehr neue Insuline für Diabetiker - mit Hilfe der Gentechnik. Doch viele Patienten wollen die alten tierischen Insuline behalten: Sie vertragen die Gentech-Insuline nicht. Schwere Unterzuckerungen, Bewusstlosigkeit und Koma können die Folge sein.
Inhalt
Gesundheitstipp 9/2003
10.09.2003
Tobias Frey - tfrey@pulstipp.ch
Die Hiobsbotschaft kam kurz vor den Sommerferien: Wegen «produktionstechnischer Mängel», so teilte die dänische Pharmafirma Novo Nordisk den Fachärzten und Diabetes-Patienten mit, sei ihr Insulin Semilente derzeit nicht mehr verfügbar. Patienten sollten doch auf andere Produkte umsteigen.
Diese lapidare Nachricht löste unter Patienten Panik aus. Denn Semilente ist ein Insulin, das aus Schweinedrüsen gewonnen wird und den Blutzucker der Patienten reguliert. Es ist das letzt...
Die Hiobsbotschaft kam kurz vor den Sommerferien: Wegen «produktionstechnischer Mängel», so teilte die dänische Pharmafirma Novo Nordisk den Fachärzten und Diabetes-Patienten mit, sei ihr Insulin Semilente derzeit nicht mehr verfügbar. Patienten sollten doch auf andere Produkte umsteigen.
Diese lapidare Nachricht löste unter Patienten Panik aus. Denn Semilente ist ein Insulin, das aus Schweinedrüsen gewonnen wird und den Blutzucker der Patienten reguliert. Es ist das letzte tierische Insulin auf dem Markt, das eine ganze Nacht lang wirkt und oft gefährliche Unterzuckerungen im Schlaf verhindern kann. Alle anderen vergleichbaren Medikamente sind heutzutage gentechnisch im Labor hergestellt.
Gentech-Insuline sind für viele Diabetiker gefährlich
Das Pikante: Rund jeder fünfte Patient verträgt diese Gentech-Insuline schlecht. Die gefürchteten Unterzuckerungen treten viel rascher auf als bei den tierischen. Diabetes-Patienten merken oft nichts oder können zu wenig rasch handeln und etwas Zuckerhaltiges essen. Die Folge sind Bewusstseinstrübungen oder gar das Koma bis hin zum Tod.
Kein Wunder war Semilente innert drei Tagen praktisch ausverkauft. Bärbel Söftje-Weissbarth aus Rüfenacht BE bekam in ihrer Apotheke gerade noch zwei Fläschchen. Die 49-Jährige wollte mit ihrer Familie in die Ferien verreisen. Sie ist erzürnt: «Es darf doch nicht sein, dass die Produktion eines so wichtigen Medikaments einfach ausfällt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich mir in den Ferien ein anderes Insulin hätte spritzen müssen.»
Auch der Berner Texter und Schriftsteller Tobias Leutenegger deckte sich ein: «Ich habe mir den Vorrat für ein ganzes Jahr gekauft.» Doch er ärgert sich ebenfalls über die Herstellerin Novo Nordisk: «Die Firma macht mit den Patienten, was sie will.»
In der Tat: Pharmafirmen setzen immer mehr auf Gentech-Insulin und stoppen die Produktion tierischer Insuline: 1998 nahm Novo Nordisk das Rinder-Insulin Ultralente vom Markt. Ende Oktober will sie das Lente-Insulin - eine Mischung von Rinder- und Schweine-Insulin - auslaufen lassen. Und jetzt kommt der Produktionsausfall von Semilente hinzu.
Auch der heute 67-jährige Fritz Wüthrich aus Unterseen BE macht seinem Ärger Luft. Der Rentner stand gar einmal vor Gericht, weil er wegen der Gentech-Insuline einen Autounfall verursacht hatte: «Auf der Fahrt nach Bern fuhr ich offenbar gegen die Leitplanken in der Autobahnmitte. Mein Sohn auf dem Beifahrersitz konnte nicht mehr eingreifen. Der Wagen prallte zurück auf die Fahrbahn, fuhr dann die rechte Böschung hoch, überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen. Mein Sohn und ich konnten uns unverletzt aus dem Wagen befreien. Ich konnte mich an nichts erinnern.» Erst ein medizinisches Gutachten bestätigte dem Richter, dass Wüthrich keine Schuld am Unfall wegen «Einnickens am Steuer» trug. Er hatte kurz vorher vom tierischen auf ein Gentech-Insulin umgestellt - und war in eine plötzliche Unterzuckerung gefallen.
Doch Pharmafirmen wie Novo Nordisk wollen nicht akzeptieren, dass tierische und Gentech-Insuline unterschiedlich wirken. Geschäftsführer Urs Pfluger schreibt dem Puls-Tipp: «Das Phänomen ist seit vielen Jahren bekannt, dass Patienten die Unterzuckerung vermindert wahrnehmen können. Viele Studien und Untersuchungen haben aber gezeigt: Nicht die Herkunft des Insulins ist dafür verantwortlich, sondern andere Faktoren wie Diabetes-Dauer und Blutzuckereinstellung. Und in Ländern, in denen keine tierischen Insuline auf dem Markt sind, gibt es keine Zunahme an schweren Unterzuckerungen.»
Viele Fachärzte bestreiten den Nutzen tierischen Insulins
Dies bestätigt sich allerdings nicht im Fall der 37-jährigen Annelies Tschachtli. Sie berichtet: «In der Apotheke bekam ich einmal irrtümlicherweise das Gentech-Insulin - ohne dass ich es merkte. In der folgenden Woche hatte ich drei schwere nächtliche Unterzuckerungen, vergleichbar mit epileptischen Anfällen: Die Stimmbänder waren derart verkrampft, dass ich nicht mehr sprechen konnte. Sitzen und Gehen waren unmöglich, die Verkrampfungen schlugen meinen Körper immer wieder auf das Bett zurück. Glücklicherweise wohnte ich damals mit einer Ärztin zusammen, die mir in diesen Situationen helfen konnte.»
Doch nicht nur die Herstellerfirmen, sondern auch viele Fachärzte wollen in den tierischen Insulinen keinen Nutzen mehr sehen. Dazu gehören pikanterweise auch Ärzte der Schweizerischen Diabetesgesellschaft (SDG), eine der grössten Anlaufstellen für Diabetes-Patienten in der Schweiz. Vordergründig spricht sie sich zwar für den Erhalt von tierischem Insulin aus. Doch Matthias Stahl, Präsident der SDG-Ärztekommission und Diabetes-Spezialist am Kantonsspital Olten, schrieb kürzlich im Brief an einen Insulin-Hersteller von «Glaubenskrieg» und einer «wirklich leidigen Diskussion» um tierische Insuline. Und weiter: «Ihre Bedeutung ist heutzutage minimal. Wissenschaftlich und mit harten Daten belegt, ist sie praktisch gleich null.»
Darauf angesprochen, will Matthias Stahl keinen Widerspruch erkennen: «Es ist sicher gut, dass es heute noch immer beide Arten von Insulinen auf dem Markt gibt. Doch letztlich sollte man jeden Diabetes-Patienten auch mit den neuartigen Insulin-Präparaten einstellen können.»
Solche Aussagen treffen Diabetiker hart. Tobias Leutenegger: «Wir Patienten werden nicht ernst genommen. Ich bin Vegetarier, deswegen hatte ich sofort vom Schweine-Insulin auf ein Gentech-Insulin umgestellt. Doch auch ich spürte in der Folge die drohende Unterzuckerung nicht mehr. Seit ich wieder tierisches Insulin spritze, habe ich keine Probleme mehr.»
Arthur Teuscher, Berner Professor und Diabetologe am Lindenhofspital in Bern, kämpft seit geraumer Zeit gegen die Firmenpolitik von Novo Nordisk an: «Die Lage eskaliert zunehmend. Es gibt immer weniger tierische Insuline. Unsere Patienten wissen oft kaum mehr weiter.»
Teuscher wirft den Behörden und Pharmakonzernen vor, dass sie Gentech-Insuline zu rasch auf den Markt gebracht hätten - ohne ausreichende Untersuchungen über Nutzen und Risiken. Jetzt bekommt er Unterstützung vom renommierten englischen Cochrane-Institut im englischen Oxford. Es hat kürzlich alle massgeblichen Studien überprüft und kommt zum Schluss: «Viele für Patienten wichtige Daten - wie Herz-Kreislauf- und Nerven-Komplikationen oder gar das Risiko, an Gentech-Insulinen zu sterben - haben die Firmen nie in guten Studien erhoben.»
Gentech-Insuline bringen mehr Profit
Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat die Not erkannt. BAG-Direktor Thomas Zeltner setzte sich persönlich bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein, damit sie sich für den Erhalt von Produkten wie Semilente stark macht. Zeltner schreibt: «Schweine-Insulin soll auf dem Markt bleiben.» Doch die WHO konnte sich noch nicht durchringen, klar Stellung zu beziehen.
Mit den Gentech-Insulinen machen die Firmen weltweit einen grösseren Profit - auf Kosten der Patienten, wie Diabetologe Arthur Teuscher bekräftigt: Diese Medikamente sind teurer. Zudem können die Firmen sie im Labor verändern und als neue Produkte wieder auf den Markt bringen.
Dazu kommt: Viele Patienten müssen mit den neuen Gentech-Insulinen vermehrt ihren Blutzucker messen, damit sie nicht in eine Unterzuckerung fallen. Und das ist ein einträgliches Geschäft für weitere Firmen. Teuscher: «Wer Gentech-Insuline spritzt, muss rasch einmal vier- bis fünfmal im Tag seinen Blutzucker bestimmen, zum Beispiel mit Messstreifen. Dies kann die Therapiekosten verdreifachen. Das ist eine Geschäftemacherei auf Kosten der Patienten.»
Novo Nordisk wiegelt ab: «Die Nachfrage nach tierischen Insulinen ist stark rückläufig, obwohl wir weiterhin gleichwertig über sie informieren. Letztlich entscheidet der Arzt, welches Insulin er verschreibt.» Zum Vorwurf der Geschäftemacherei will die Firma keine Stellung beziehen.
Doch Fachärzte lernen immer weniger den Umgang mit tierischen Insulinen und wollen sie deshalb nicht mehr verschreiben, klagt Teuscher. Dies musste auch der Lehrer Paul Hofer (Name geändert) erfahren: Er lebte zwölf Jahre in Brasilien, wo er sich täglich tierisches Insulin spritzte. Als er kürzlich in die Schweiz zurückkam, wollte er die Therapie fortsetzen. Der Arzt ging nicht darauf ein. Hofer machte das einzig Richtige: Er bat den Diabetes-Arzt, ihn aus seiner Patientenkartei zu streichen.
Tierische Insuline auf dem Markt
- Lassen Sie sich von Ihrem Arzt auch über tierische Insuline informieren.
- Wechseln Sie den Arzt, falls er Ihnen die Informationen verweigert.
- In der Schweiz sind vorläufig noch acht unterschiedlich wirkende tierische Insuline auf dem Markt: Fünf von der Firma Novo Nordisk, Zürich, drei von der CP Pharma, Münchenstein BL (siehe dazu auch www. swissmedic.ch, Suchwort «Insulin»).
- Alternativen zu Semilente für die Nacht können tierische NPH-Verzögerungs-Insuline sein, zum Beispiel Insulatard in erhöhter Dosis. Monotard HM Insulin eignet sich nicht.
Informationen
- Forum Insulin Schweiz: Diabeteszentrum Lindenhof, 3001 Bern, info@insulin.ch, www.insulin.ch. Keine telefonischen Auskünfte.
«Die Produktion eines so wichtigen Medikamens darf doch nicht einfach ausfallen»
Bärbel Söftje, Diabetikerin
«Ich bekam irrtümlich ein Gentech-Insulin. In der folgenden Woche konnte ich nicht mehr sprechen, Sitzen und Gehen waren unmöglich»
Annelies Tschachtli, Diabetikerin
«Die Lage eskaliert zunehmend. Unsere Patienten wissen oft kaum mehr weiter»
Professor Arthur Teuscher, Diabetes-Spezialist
«Ich hatte einen Unfall - und konnte mich an nichts erinnern. Kurz vorher hatte ich auf ein Gentech-Insulin umgestellt»
Fritz Wüthrich, Diabetiker
«Seit ich wieder tierisches Insulin spritze, habe ich keine Probleme mehr»
Tobias Leutenegger, Diabetiker