Ein Gesetz, das Richtern Kopfweh macht
Inhalt
K-Tipp 19/2001
14.11.2001
Scheidungsrecht Bei der Anhörung von Kindern legen Gerichte unterschiedliche Massstäbe an
Kinder haben das Recht, bei der Scheidung der Eltern ihren Bedürfnissen und Wünschen Ausdruck zu geben. Doch für Richter ist die Anhörung eine heikle Sache - mit der sie höchst uneinheitlich umgehen.
Gery Schwager gschwager@ktipp.ch
Artikel 144 des Zivilgesetzbuches gehört zu den wichtigsten Neuerungen im revidierten, seit Anfang 2000 geltenden Scheidungs...
Scheidungsrecht Bei der Anhörung von Kindern legen Gerichte unterschiedliche Massstäbe an
Kinder haben das Recht, bei der Scheidung der Eltern ihren Bedürfnissen und Wünschen Ausdruck zu geben. Doch für Richter ist die Anhörung eine heikle Sache - mit der sie höchst uneinheitlich umgehen.
Gery Schwager gschwager@ktipp.ch
Artikel 144 des Zivilgesetzbuches gehört zu den wichtigsten Neuerungen im revidierten, seit Anfang 2000 geltenden Scheidungsrecht. Er bestimmt in Absatz 2: «Die Kinder werden in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich angehört, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen.»
Das klingt vernünftig. Und es entspricht einer zentralen Forderung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes. Doch bei Kurt Müller (Name geändert) ruft Artikel 144 unerfreuliche Erinnerungen wach.
Müller und seine Frau gehen seit knapp zwei Jahren getrennte Wege. Im Hinblick auf die Scheidung haben sie sich auf eine Konvention geeinigt, die unter anderem das Sorgerecht für den 11-jährigen Sohn und die 7-jährige Tochter dem Vater überträgt. «Meine Frau, die Kinder und ich waren und sind überzeugt, dass diese Lösung den Bedürfnissen aller am besten entspricht», sagt Müller. Dennoch bestand die Richterin beim Überprüfen der Konvention darauf, die Kinder persönlich und ohne die Eltern anzuhören. «Sie schien es mir nicht recht zuzutrauen, dass ich für die beiden sorgen kann», so Müllers Eindruck.
Verzwickte Situation für den Vater
Als Tochter und Sohn sich dagegen sträubten, bei der Richterin vorzusprechen, geriet Müller in eine schwierige Situation: «Hätten meine Kinder die Anhörung verweigert, wäre die Richterin sicher der Überzeugung gewesen, dass ich dahinter stecke. Umgekehrt wollte ich die Kinder nicht gegen ihren Willen zur Anhörung zwingen.»
Müllers Vorschlag, die Anhörung zu Hause statt im Gerichtsgebäude abzuhalten, lehnte die Richterin ab. Schliesslich gaben die Kinder nach - «einzig und allein mir zuliebe», wie Müller betont.
Die Anhörung dauerte rund eine Stunde. Einige Tage danach erhielten die Kinder den zusammenfassenden Bericht zur Stellungnahme zugeschickt - und für Kurt Müller entstand erneut eine verzwickte Lage: «Allein waren meine Kinder mit dieser Aufgabe überfordert. Also musste ich ihnen helfen - auch auf das Risiko hin, dass man mir später vorwerfen würde, ihren Willen verfälscht zu haben.»
Indes: Vater, Tochter und Sohn hätten sich die Übung sparen können. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Richterin im bereinigten Anhörungsbericht keine einzige der von den Kindern gewünschten Korrekturen berücksichtigt hatte.
Kurt Müller zieht deshalb ein vernichtendes Fazit: «Da macht eine Richterin die ganze Familie verrückt mit einer belastenden Anhörung, die niemand von uns gewünscht hat, und kommt den Bedürfnissen und Wünschen der Kinder erst noch in keiner Weise entgegen. Für meinen Sohn, meine Tochter und mich ist das ein ungeheurer Affront.»
So handeln 16 Gerichte in der Deutschschweiz
Möglicherweise sind die schlechten Erfahrungen der Familie Müller mit Artikel 144 eher die Ausnahme. Klar ist aber, dass die Gerichte in Sachen Kindesanhörung unterschiedliche Wege beschreiten. Das zeigt eine Umfrage des K-Tipp bei 16 Gerichten in der Deutschschweiz. Sie bezieht sich nur auf Fälle, in denen Eltern einvernehmlich scheiden möchten.
Punkto Mindestalter etwa geben Vertreter des Amtsgerichts Luzern, der Kantonsgerichte Zug und Obwalden sowie der Bezirksgerichte Baden, Bremgarten, Kulm, Liestal, Sissach, Thun und Zürich an, Anhörungen prinzipiell erst bei Kindern ab 11 bis 12 Jahren durchzuführen. Jüngere Kinder befrage man nur, heissts an einigen Gerichten, wenn sie dies explizit wünschten, wenn sie ältere Geschwister hätten oder wenn der Richter Zweifel an der Zweckmässigkeit der elterlichen Scheidungsvereinbarung hege.
In St. Gallen gibts Anhörungen bereits mit Kindern ab dem 7. bis 8. Altersjahr, wie am Kantonsgericht zu erfahren ist. «Wir verzichten nur in Einzelfällen darauf, etwa wenn die Eltern schon lange getrennt leben und sich die Situation gefestigt hat», sagt der Präsident des Bezirksgerichts Wil, Dominik Weiss.
Und sein Amtskollege in Bischofszell, Hans Munz, führt aus: «Aufgrund meiner Erfahrung - auch mit drei eigenen Kindern - bin ich überzeugt, dass es möglich ist, schon mit einem Zweitklässler ein sinnvolles Gespräch zu führen. Es braucht allerdings eine kindergerechte Sprache und Fingerspitzengefühl.»
Sehr zurückhaltend bezüglich Kindesanhörung zeigt man sich demgegenüber an den Bezirksgerichten von Brugg und Winterthur sowie am Kantonsgericht Schaffhausen. Hier gibts Anhörungen quasi nur auf Verlangen oder bei Verdacht auf Ungereimtheiten in der Konvention. «In nicht strittigen Fällen, in denen niemand eine Anhörung wünscht, kann man durchaus darauf verzichten. Artikel 144 statuiert ja keinen Zwang», sagt Annette Dolge, Vorsitzende der 1. Kammer am Schaffhauser Kantonsgericht.
Kinder können selber über Anhörung entscheiden
Ebenfalls uneinheitlich ist die Benachrichtigung der Kinder. Einige Gerichte weisen die Eltern an, ihre Kinder über die Möglichkeit einer Anhörung zu informieren. Häufiger aber erhalten die Kinder einen Brief des Richters, auf dem sie ankreuzen können, ob sie eine Anhörung wünschen oder nicht.
Das Gespräch selber findet oft in einem Büro des Gerichtsgebäudes statt. Zahlreiche Richter bemühen sich, möglichst keine «typische Gerichtsatmosphäre» aufkommen zu lassen. «Bei jüngeren Kindern kommen auch Besuche zu Hause oder Spaziergänge vor», sagt Hans Munz, Präsident des Bezirksgerichts Bischofszell.
Eher selten scheinen Richter Drittpersonen, zum Beispiel Kinderpsychologen, mit der Anhörung zu betrauen - jedenfalls bei einvernehmlichen Scheidungen. In strittigen Fällen, in denen die Gerichte das Befinden auch kleinerer Kinder (teils bis hinab ins Vorschulalter) erfahren möchten, kommen externe Fachleute häufiger zum Zug.
Die uneinheitliche Praxis der Gerichte ist nicht zuletzt eine Folge des offen formulierten Artikels 144: Danach kann die Anhörung der Kinder ausbleiben, wenn «Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen».
Das ändert allerdings nichts daran, dass ein grundsätzlicher Verzicht auf Anhörungen mit dem Gesetz nicht vereinbar ist. «Gerichte können diese Aufgabe nicht einfach ignorieren, weil sie überlastet sind oder vielleicht Hemmungen haben, in Eltern-Kind-Beziehungen einzugreifen», hält Alexandra Rumo-Jungo, Rechtsprofessorin an der Uni Freiburg, fest.
Zentral aber ist: Das Kind darf sich bei der Anhörung nicht unter Druck fühlen. «Es darf auf keinen Fall das Gefühl haben, sich zwischen Vater und Mutter entscheiden zu müssen», warnt Professor Wilhelm Felder von der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Poliklinik der Universität Bern. Vielmehr müsse eine Anhörung dem Kind Gelegenheit geben, seine Bedürfnisse und Wünsche zu formulieren, Fragen zu stellen und Informationen zu erhalten.
Das stellt hohe Anforderungen an die Richterinnen und Richter. «Ohne Zusatzausbildung zum Beispiel in Familientherapie oder Psychologie dürften viele dieser Aufgabe nicht oder nur ungenügend gewachsen sein», glaubt die Scheidungsberaterin und Mediatorin Rebekka Schroff. Sie steht mit dieser Meinung keineswegs allein da.
Faustregel: Anhörung nicht vor dem 7. Altersjahr
Zumindest was die Altersgrenze für Anhörungen betrifft, hat sich inzwischen auf der Basis juristischer und psychologischer Erkenntnisse eine Faustregel für die Gerichte herausgebildet. Sie besagt:
- Vor dem 7. Altersjahr machen Anhörungen kaum Sinn.
- Zwischen dem 7. und dem 11. Altersjahr sollte ein Kind durch eine geschulte Fachkraft befragt werden. Und zwar nur, wenn der Richter zum Schluss kommt, es sei von der Familie (Eltern, Grosseltern, Paten) nicht genügend in die anstehenden Entscheidungen einbezogen worden.
- Bei Kindern ab 11 bis 12 Jahren schliesslich sollten Anhörungen die Regel sein.
Hätte sich das Gericht im Fall von Kurt Müller an diese Richtschnur gehalten - der Familie wäre einiges erspart geblieben.
Mitarbeit: Thomas Müller
So bereiten Sie Ihr Kind vor
Wenn Ihrem Kind eine Anhörung beim Richter oder einer Fachperson bevorsteht, ist es wichtig, dass Sie es über einige Punkte sorgfältig ins Bild setzen.
- Erklären Sie Ihrem Kind, dass es sich in der Anhörung nicht für oder gegen einen Elternteil entscheiden muss.
- Sagen Sie ihm, dass es nicht antworten muss, wenn ihm der Richter oder die Fachperson eine solche Frage stellt.
- Erläutern Sie ihm auch, dass es erfahren und mitbestimmen darf, was vom Gespräch in die Akten kommen soll.
Praxisbezogene Informationen rund um die Kindesanhörung erhalten Sie unter anderem bei:
- Verein Trialog - Kinder in Scheidung Tel. 078 755 58 58
- Schweizerische Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, Tel. 032 621 30 30
- Schweizerischer Verein für Mediation Tel. 041 342 17 63, www.mediation-svm.ch