Gemeinde schröpft Rentnerpaar Verwandten-Unterstützung: Sozialämter wälzen vermehrt Kosten auf nahe Angehörige
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K-Tipp 2/2000
09.02.2000
Das Sozialamt wollte die allein erziehende Mutter nicht länger unterstützen:
Ab sofort sollten ihre Eltern 850 Franken pro Monat zahlen. Doch diese wehrten sich.
Als Yvonne und Walter Mühry vor vier Jahren Post von der Aargauer Gemeinde Frick bekamen, verschlug es dem pensionierten Paar die Sprache. Auf den Franken genau listete das Sozialamt auf, wie viel ihre Tochter - allein erziehend mit drei Kindern - bis anhin erhalten hat: 218 000 Franken. Doch damit sei Schluss....
Das Sozialamt wollte die allein erziehende Mutter nicht länger unterstützen:
Ab sofort sollten ihre Eltern 850 Franken pro Monat zahlen. Doch diese wehrten sich.
Als Yvonne und Walter Mühry vor vier Jahren Post von der Aargauer Gemeinde Frick bekamen, verschlug es dem pensionierten Paar die Sprache. Auf den Franken genau listete das Sozialamt auf, wie viel ihre Tochter - allein erziehend mit drei Kindern - bis anhin erhalten hat: 218 000 Franken. Doch damit sei Schluss. Mührys müssten ab sofort 850 Franken pro Monat beisteuern - plus rückwirkende Kostenbeteiligung von 15 000 Franken. Grundlage der Verfügung: Artikel 328 des Zivilgesetzbuches. Er besagt, dass
Verwandte "in auf- und absteigender Linie" verpflichtet sind, einander zu unterstützen: Eltern ihre Kinder oder Grosseltern ihre Enkel - und umgekehrt. Bis 1999 waren auch Geschwister in die Pflicht genommen. Diesen Passus hat das Parlament nun aufgehoben.
Yvonne Mühry liess sich nicht einschüchtern - und zahlte nicht. Sie belegte ihrerseits die freiwilligen Leistungen an die Tochter: insgesamt 150 000 Franken, seit der Schwiegersohn die Familie im Stich gelassen hatte. Auch berechnete Yvonne Mühry ihren monatlichen Bedarf - samt Krankheitskosten ihres Mannes, der an Parkinson leidet.
Obergericht entschied: Mührys müssen nicht zahlen
Das Rentnerpaar kommt auf 76 000 Franken Einkommen und 106 000 Franken Vermögen, angelegt in einer Eigentumswohnung. Nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) zu wenig für Verwandtenunterstützung (siehe Kasten unten). Trotzdem klagte die Gemeinde Frick gegen die Mührys beim Bezirksgericht, allerdings ohne Erfolg. Die Gemeinde zog die Klage ans Obergericht Aarau weiter, und dieses entschied vor kurzem: Die Mührys sind von den 850 Franken pro Monat befreit. Sie müssen aber 6200 Franken an die Gemeinde Frick zurückzahlen und 1000 Franken an die Gerichtskosten beisteuern.
Mit diesem Urteil kann Yvonne Mühry leben, nicht aber mit dem Vorgehen der Gemeinde Frick. "Wir kamen uns vor wie Schwerverbrecher. Dabei haben wir das ganze Leben gekrampft und freuten uns auf eine sorgenfreie Pension im Wallis." Das Sozialamt Frick nimmt dazu keine Stellung. Leiterin Ursula Stäuble verweist lediglich "auf die aargauische Gesetzgebung".
"So nicht", sagt auch Rosmarie Ruder, Geschäftsführerin der Skos. "Wir empfehlen den Gemeinden eine gütliche Einigung auf der Basis der Skos- Richtlinien."
Tatsächlich gehört Aargau zu den Hardliner-Kantonen - zusammen mit den Kantonen St. Gallen, Thurgau, Glarus und der Stadt Luzern. Solothurn belangt die Verwandten gar schon ab 50 000 Franken Einkommen (siehe Tabelle). "Die Skos-Richtlinien sind etwas für Grossstadt-Verhältnisse", rechtfertigt Bernhard Felder, Leiter des Amtes Sozialhilfe und Asyl in Solothurn, die tiefen Limiten. "Die Lebenshaltungskosten sind bei uns tiefer als zum Beispiel in der Stadt Zürich."
Auch setzt Solothurn den ZGB-Artikel 328 konsequent um. Der Kanton prüft jeden Fall und treibt die Verwandtenunterstützung stellvertretend für die Gemeinden ein. "Wenn es den Artikel schon gibt, dann wenden wir ihn auch an. Sonst muss man ihn halt abschaffen", sagt Felder.
Solothurns Strategie hat Erfolg - mindestens in finanzieller Hinsicht: 1998 zahlten Angehörige insgesamt eine Million Franken Verwandtenunterstützung - vor allem an allein Erziehende, Ausgesteuerte und Suchtkranke.
In den Kantonen herrschtungleiches Recht
Doch nicht überall ist die Praxis so rigoros. Würde die Tochter der Mührys in den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Schaffhausen oder Nidwalden leben, wären ihre Eltern kaum belangt worden.
"Diese Rechtsungleichheit ist störend", meint Skos-Geschäftsführerin Rosmarie Ruder. "Leider aber getrauen sich noch viel zu wenige, es wie die Mührys auf einen Pro-zess ankommen zu lassen."
Der ZGB-Artikel stammt von 1912, ging in der Hochkonjunktur vergessen und wird zunehmend wieder angewendet. Für Rosmarie Ruder ein alter Zopf. Die Zeiten der Grossfamilien, der Sippenhaftung und der fehlenden Sozialversicherungen seien vorbei.