Lehrlinge sind mehr als billige Arbeitskräfte
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K-Tipp 9/2002
01.05.2002
Der Druck auf die Stifte steigt - viele Firmen nützen ihre jüngsten Mitarbeiter aus
Stress, ungerechte Behandlung, tiefe Löhne: Die Zahl der Stifte, die ihre Lehre abbrechen, steigt. Der K-Tipp sagt, wie Lehrlinge zu ihrem Recht kommen.
Pirmin Schilliger redaktion@ktipp.ch
Die Swisscom erzielt riesige Gewinne und verfügt über Milliarden an freien Mitteln - und sie spart bei den Lehrlingen, dass es fast schon peinlich ist», beschwert sich Urs K. ...
Der Druck auf die Stifte steigt - viele Firmen nützen ihre jüngsten Mitarbeiter aus
Stress, ungerechte Behandlung, tiefe Löhne: Die Zahl der Stifte, die ihre Lehre abbrechen, steigt. Der K-Tipp sagt, wie Lehrlinge zu ihrem Recht kommen.
Pirmin Schilliger redaktion@ktipp.ch
Die Swisscom erzielt riesige Gewinne und verfügt über Milliarden an freien Mitteln - und sie spart bei den Lehrlingen, dass es fast schon peinlich ist», beschwert sich Urs K. (Name der Redaktion bekannt).
Der Berufsmaturand und KV-Stift im 3. Lehrjahr beim Telekom-Riesen verdient 1097 Franken im Monat. Das sind 10 Prozent weniger als jene 1220 Franken, wie sie der Schweizerische Kaufmännische Verband (SKV) empfiehlt.
Bei einer Umfrage, die Urs K. in seiner Klasse in der Berufsschule selber vornahm, musste er feststellen: «Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen verdienen rund 200 Franken mehr.»
Massive Unterschiede beim Lohn
Die Swisscom ist mit diesem Lohndumping kein Einzelfall. Die in der Lehrlingsausbildung als Vorzeigefirma geltende ABB bleibt gar um 340 Franken unter den Lohnempfehlungen des KV Schweiz. Sämtliche Lehrlinge im 3. Lehrjahr - ob KV, Polytechniker oder Informatiker - verdienen hier bloss 880 Franken. Das stösst den Betroffenen sauer auf, umso mehr als ihre obersten Chefs in den letzten Jahren gewaltige Summen abgezockt haben.
Besser gestellt sind Lehrlinge in jenen Branchen, in denen der Lohn im Gesamtarbeitsvertrag festgelegt ist: zum Beispiel in der chemischen Industrie, im Druckbereich und in «Marmor und Granite». Wer gar bei der Migros in Zürich das KV absolviert, erhält im 3. Lehrjahr 1300 Franken.
Die Höhe des Lehrlingslohnes ist gesetzlich jedoch nicht verankert. Sie muss zwischen den Vertragsparteien individuell ausgehandelt werden.
«Viele Firmen richten sich aber nach den Empfehlungen der Berufsverbände», erklärt Mario Antonelli, Leiter Jugend beim SKV. Zudem führen die kantonalen Berufsbildungsämter Lohnlisten für interessierte Jugendliche und Lehrmeister.
Ein Teil der Ferien geht fürs Büffeln drauf
Die Swisscom gewährt sechs Ferienwochen - eine Woche mehr, als das Gesetz vorschreibt. Trotzdem empfindet Urs K. seine Situation als unbefriedigend. Das hängt mit seiner Doppelbelastung von Lehre und berufsbegleitender Berufsmatura zusammen.
Um seine notwendigen Sprachpraktiken absolvieren zu können, musste Urs K. im letzten Jahr sechs Ferientage opfern. Noch mehr Zeit investierte er im Urlaub, um für die Schule zu büffeln. Er konnte letztlich bloss zwei Wochen richtig ausspannen.
«Eigentlich wären Ferien für die Erholung vorgesehen, aber die schulischen Anforderungen, vor allem für Lehrlinge mit berufsbegleitender Berufsmatura, sind inzwischen so hoch, dass es schon fast normal geworden ist, dafür zwei und mehr Wochen zu opfern», sagt Antonelli.
Kein Wunder, haben die Berufsmaturaschulen vielerorts grosse Mühe, ihre Klassen zu füllen. Wer es schafft, wählt lieber das Gymnasium mit 12 oder 13 Ferienwochen. Dass die Lehrabbruchquote zum Beispiel im Kanton ZH inzwischen bei 17 Prozent liegt, erklären Experten vor allem mit der zu knapp bemessenen Erholungszeit.
Gewisse Branchen sind aufgrund dieser Erkenntnis in ihrem GAV bereits auf sechs Ferienwochen eingeschwenkt. Auch bestimmte Firmen gewähren wie die Swisscom den Jugendlichen in Ausbildung immerhin eine sechste Ferienwoche.
Auf politischer Ebene gibt es inzwischen zwei Vorstösse für mehr Ferien. Die Berner SP-Nationalrätin Ursula Wyss hat eine parlamentarische Initiative für eine gesetzlich verankerte sechste Ferienwoche gestartet.
«Das gibt den Jugendlichen mehr Spielraum und hilft ihnen, mit der Doppelbelastung in der Schule und am Arbeitsplatz besser fertig zu werden», begründet Nationalrätin Ursula Wyss. Die Wirtschaftskommission des Nationalrates hat die Initiative von Ursula Wyss letzte Woche dem Parlament jedoch zur Ablehnung empfohlen.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fordert gar sieben Wochen Ferien. SGB-Berufsbildungssekretär Peter Sigerist erklärt: «Damit liesse sich die Attraktivität der Berufslehre gegenüber dem gymnasialen Weg wieder steigern.»
Auf wenig Verständnis stossen Lehrlinge immer wieder, wenn sie ihren so genannten Jugendurlaub beziehen wollen. Laut Artikel 329e des Obligationenrechts hat jeder Jugendliche Anrecht auf eine zusätzliche Ferienwoche für ehrenamtliche Jugendarbeit, zum Beispiel um ein Pfadilager oder einen J+S-Kurs zu leiten oder um sich dafür aus- und weiterzubilden.
«Es gibt grosszügige Firmen, die diesen Urlaub sogar bezahlen; andere wiederum machen die Gewährung des Urlaubs von Leistungen im Betrieb und Noten in der Berufsschule abhängig», sagt Jugend-Leiter Antonelli vom SKV. Solche Einschränkungen sind aber ein klarer Verstoss gegen das Gesetz (Infos zum Jugendurlaub unter www.jugendurlaub.ch).
Die Arbeitszeit wird häufig überschritten
Bis zum vollendeten 20. Altersjahr geniessen Lehrlinge auch bezüglich der täglichen Arbeitszeit einen Sonderschutz. Aber auch hier hapert es mit dem Vollzug in gewissen Branchen. «Im Gastgewerbe zum Beispiel sind Überzeiten, Nacht- und Sonntagsarbeiten, die gegen die Gesetze verstossen, die Regel», kritisiert SGB-Mann Sigerist. Nach wie vor betrachteten gewisse Wirte ihre Lehrlinge einfach als billige Arbeitskräfte.
Das Gesetz versucht, solchen Missständen einen Riegel zu schieben. Es regelt Überstunden und verbietet, Lehrlinge für Akkordarbeit oder für berufsfremde Arbeiten einzusetzen.
Zusatzleistungen: Die Migros ist top
Da weder das Obligationenrecht noch das Berufsbildungsgesetz alle Punkte in der Ausbildung regeln, hätten es die Lehrbetriebe in der Hand, mit freiwilligen Vergünstigungen und einer besonderen Betreuung der Auszubildenden ihre Attraktivität zu steigern.
Üblich sind zum Beispiel Beiträge an die Lehrmittel und Vergünstigungen beim Essen. Doch auch in diesem Punkt verhält sich die Swisscom gegenüber Urs K. nicht gerade grosszügig. Seit zwei Jahren zahlt sie zwar eine Lehrmittelpauschale von 30 Franken pro Monat. Nur profitiert Urs K. nicht davon, weil er vor diesem Datum seine Lehre begonnen hat. «Das Schulmaterial musste ich bis auf den letzten Rappen selber bezahlen.»
Bei der ABB erhalten die Lehrlinge für die gesamte Ausbildung eine Lehrmittelpauschale von 500 Franken, auf den Monat gerechnet also bloss Fr. 13.85.
Für das Menü in der Kantine müsste Urs K. 10 bis 12 Franken bezahlen. «Zu teuer, ich kann es mir nicht leisten.» Bessere Bedingungen hätte Urs K. als KV-Stift bei der Migros. Hier könnte er sich für einen Fünfliber ein Mittagessen leisten.
Weiter bietet der Detailhandelsriese seinen Lehrlingen sechs zusätzliche Ausbildungstage, die in diesem Jahr für ein Expo-Projekt eingesetzt werden. Zudem können sie Kurse der Migros-Klubschule gratis besuchen.
Auch gewisse Kantone tun für ihre Lehrlinge weitaus mehr, als das Gesetz verlangt. Basel-Stadt etwa vergütet Transport, Verpflegung und auch Übernachtung, falls ein Lehrling ausserkantonal in die Berufsschule muss.
Firmeninterne Tests erhöhen den Druck
Zwar hat sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt in den letzten Jahren leicht entspannt. Aber nach wie vor gibt es zu wenig Lehrstellen.
«Wer einen Lehrvertrag kriegt, ist glücklich und akzeptiert die offerierten Bedingungen ohne Widerspruch», sagt Sigerist. Dazu gehören auch die so genannten Basic-Checks, die von den Bewerbern bezahlt werden müssen und in denen die Firmen die Grundkenntnisse der Jugendlichen prüfen.
Diese Tests führen zu einer stets strengeren Selektion und erhöhen den Druck auf die Jugendlichen. Bis zu einem Fünftel pro Jahrgang muss heute vor Lehrbeginn in die Warteschlaufe, in so genannte Brückenangebote des 10. Schuljahres. Vor allem für junge Frauen, die als Kinder von Emigranten in der Schweiz aufwachsen, wird es auf dem Lehrstellenmarkt zusehends schwieriger.
Das knappe Angebot hat weiter zur Folge, dass Lehrlinge Schikanen erdulden, wie zum Beispiel die Drogentests bei Roche. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte bemängelte dieses Vorgehen zwar als Eingriff in die Persönlichkeit. Es gibt aber kein Gesetz, das solche Tests verbieten würde.
Weil der Pharmariese prinzipiell als vorbildlicher Lehrbetrieb eingestuft wird, drückt das Bundesamt für Berufsbildung ein Auge zu. Schliesslich sind den Berufsbildungsämtern jene Firmen, die sich die Mühe nehmen, überhaupt noch Lehrlinge auszubilden, immer noch lieber als jene, die sich darum foutieren.
Diese so genannten Trittbrettfahrer möchte man mit der Lehrstellen-Initiative, über die voraussichtlich 2003 abgestimmt wird, stärker in die Pflicht nehmen. Derzufolge müssten Betriebe, die keine Lehrlinge ausbilden, Geld in einen Fonds speisen. Daraus sollen jene Firmen, die sich in der Lehrlingsausbildung engagieren, unterstützt werden.
Hier gibts Hilfe bei Problemen
Lehrlinge müssen sich nicht alles gefallen lassen. Bei Problemen sollten sie das kantonale Berufsbildungsamt informieren.
Mario Antonelli, Leiter Jugend beim KV Schweiz, sagt: «Lehrlinge sollen bei Problemen nicht einfach reklamieren und ausrufen.» Schliesslich gehöre es zum Lernprozess, sich auch soziale Kompetenz anzueignen. Ein Lehrling müsse menschliche Probleme, wie sie in jeder Gruppe normal seien, akzeptieren können.
«Andererseits müssen sich Lehrlinge nicht alles gefallen lassen», gibt er zu bedenken. Er rät, sich bei Problemen mit den Berufsbildungsämtern der Kantone in Verbindung zu setzen. Hier arbeiten Fachleute, die bei Konflikten zwischen Lehrbetrieb und Lehrling Lösungen suchen.
Die kantonalen Behörden müssen jeden Lehrvertrag unter die Lupe nehmen, bevor sie ihn genehmigen. Art und Dauer der beruflichen Ausbildung, Lohn, Probezeit, Arbeitszeit und Ferien werden dabei schriftlich festgesetzt.
Für jeden Beruf gibt es ein Ausbildungsreglement, das zusammen mit dem Lehrvertrag abgegeben wird. Es regelt insbesondere, welche Bedingungen für den Lehrbetrieb gelten, woraus das konkrete Lehrprogramm besteht, wie viele Lehrlinge ein Betrieb ausbilden darf und welche Anforderungen die Lehrabschlussprüfung stellt.
Die Adressen der kantonalen Berufsbildungsämter sowie Tipps und Infos zur Lehre findet man auf der Website der Deutschschweizerischen Berufsbildungsämterkonferenz (DBK) unter www.dbk.ch
Hilfe bieten auch die drei folgenden Broschüren (mit sämtlichen rechtlichen Details zu Themen wie Arbeitszeit, Überstunden, Kündigung usw.):
- «Wegweiser durch die Berufslehre». Zu beziehen bei DBK-Sekretariat, Gütschstrasse 6, 6000 Luzern 7. Tel. 041 248 50 60. Preis: Fr. 3.90.
- «Lehrling, Du hast auch Rechte!» Zu beziehen bei SGB, Postfach 64, 3000 Bern 23. Tel. 031 371 56 66. Preis: Fr. 3.-.
- «Deine Rechte in der Lehre». Zu beziehen beim Kaufmännischen Verband Schweiz, Postfach 687, 8027 Zürich. Tel. 01 283 45 45. Gratis.