Der Besucherpavillon im AKW Gösgen ist gross. Verchromte Tische entlang den Fenstern, die den Blick zum Reaktorgebäude freigeben. Links eine Theke in dunklem Holz, rechts ein WC-Hinweis. Die drei K-Tipp-Redaktoren, die inkognito unterwegs sind, werden freundlich begrüsst und zur Multimedia-Show geführt.
Tenor: Ohne Strom geht nichts, ohne Atomstrom erst recht nicht. «Strom ist wie das Blut in unseren Adern», sagt die Führerin nach Filmende. Dann gehts durch Ausstellungs- und Videoräume.
Tendenziöse Aussagen
Verschiedene Energieträger werden präsentiert und der Kernkraft gegenübergestellt. Solarkraft etwa wird als extrem teuer bezeichnet. Die Herstellung benötige sehr viel Material und Energie. Experten wissen: In dieser Absolutheit ist das längst überholt.
Zur Wasserkraft heisst es in Gösgen, alle denkbaren Kraftwerke seien gebaut. Der K-Tipp hat die Verantwortlichen in Gösgen einen Tag später mit die-sen tendenziösen Aussagen konfrontiert. Sprecher Bruno Elmiger:
«Die Aussagen sind nicht tendenziös. Man kann in einer solchen Ausstellung nicht der ganzen Komplexität gerecht werden und muss manchmal vereinfachen.»
Strahlengefahr
Zu einem späteren Zeitpunkt der Führung wird aufgezeigt, dass Strahlung keineswegs immer gefährlich sei. In der Natur sei sie sogar höher als in einem AKW. Kein Wort aber davon, dass die Umgebung von AKW auch in der Schweiz radioaktiv belastet ist.
Das haben letztjährige Messungen der Zeitschrift «Gesundheitstipp» rund um das AKW Mühleberg im Kanton Bern ergeben. Die Werte liegen zwar klar unter der sogenannten Freigrenze. Doch viele Wissenschafter sind überzeugt: Auch so niedrige Strahlung kann schaden – vor allem, wenn sie über längere Zeit auf den Körper einwirkt.
In Gösgen erläutert die Führerin derweil, wie «Neutrönchen Atömchen» spalten und sich dabei neue «Neutrönchen» bilden, die wiederum andere «Atömchen» spalten würden. Auf die Katastrophe in Fukushima bezieht sich die Frau nur zweimal und kurz:
«Unser Nachkühlbecken ist im Reaktorgebäude – und nicht daneben wie in Japan.» Und: «Wir haben einen Druckablass.» Elmiger: «Wir sind weder kompetent noch befugt, über Fukushima Auskunft zu geben. Unsere Führer sind daher angehalten, dazu keine Aussagen zu machen.»
Erdbeben und Flugzeugabstürze
In der Führung wird mit keinem Wort erwähnt, dass der Bau neuer AKW in der Schweiz gerade auf Eis gelegt worden ist. Behauptet wird aber: «Unser Reaktorgebäude ist so gebaut, dass es ein Erdbeben oder einen Flugzeugabsturz aushalten würde.»
Von den nun angeordneten Sicherheitsüberprüfungen für AKW in der Schweiz erfährt man nichts. Elmiger: «Wir kommentieren die Sicherheitstests nicht. Wir wollen keine politischen Aussagen machen. Wir konzentrieren uns darauf, darzustellen, wie Kernenergie funktioniert.»
Endlager-Problematik
Nach der Besichtigung des Kühlturms gehts am Lagergebäude für Brennelemente vorbei. Die Führerin sagt, dass abgebrannte Brennstäbe zurzeit im AKW bleiben und man deshalb noch ein «Abklingbecken» bauen musste.
«Das kostete 80 Millionen Franken und hat den Strompreis in Gösgen von 3,5 auf 4,5 Rappen pro Kilowattstunde erhöht.» Die ungelöste Endlagerfrage bleibt unerwähnt. Der Film im Ausstellungsgebäude zeigte nur, wie ein Tiefenlager für hochradioaktive Abfälle dereinst funktionieren sollte.
Elmiger rechtfertigt diese Informationspolitik: «Es stimmt nicht, dass wir nicht auf die Probleme der Tiefenlager hinweisen. Allerdings steht die Information über die Funktionsweise im Vordergrund.» Der fast dreistündige Rundgang endet im Besucherzentrum.
Als Geschenk gibt es ein Quartett aus 36 Karten mit Bildern und Texten zur Kernkraft. Auf einer Karte heisst es: «Vor Strahlen kann man sich wirksam schützen.» Warum aber, so fragen sich die Besucher, musste die Bevölkerung um Fukushima evakuiert werden?
Störfälle in Schweizer Kernreaktoren
- 1967 Würenlingen AG: Ein angeschmolzenes Brennelement im Forschungsreaktor Diorit verseucht die Reaktorhalle. In der Folge tritt auch schweres Wasser aus: In der Aare registriert man erhöhte Radioaktivitäts-Werte. 1977 schliesst der Bund den Forschungsreaktor.
- 1969 Lucens VD: Im Versuchsreaktor explodieren am 21. Januar mehrere Brennelemente. Der Kühltank bricht auseinander. Alle Mitarbeiter können rechtzeitig evakuiert werden. Lucens wird danach geschlossen und einbetoniert.
- 2005 Leibstadt AG: Am 28. März schmilzt eine Eisenplatte im Generator. In der Folge müssen die Arbeiter die Anlage sofort abschalten. Dies führt im Reaktorkern zu einem Hitzeschock. Der Reaktor muss notfallmässig gekühlt werden.
- 2007 Leibstadt AG: Bei einem Test am 6. März öffnen Mitarbeiter des AKW versehentlich Ventile zur Druckentlastung des Reaktors. Das Wasser fehlt im Reaktor und muss durch Notkühlwasser ersetzt werden.
- 1990–2011 Mühleberg BE: 1990 stellt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) erste Risse im Kernmantel des Reaktors fest. Diese vergrössern sich. Die Betreiber fixieren die Risse mit Zugankern. Das reicht für das Ensi noch nicht: Der Kernmantel muss restauriert werden. Bis wann, ist offen.
Quellen: Ensi, ETH
«Dahinter stecken Werbeleute, nicht Wissenschafter»
Der K-Tipp befragte den Greenpeace-Atomexperten Stefan Füglister zur Informationspolitik im AKW Gösgen.
Herr Füglister, der Besuch des K-Tipp im AKW Gösgen hat gezeigt, dass die Gefahren der Atomenergie fast völlig ausge- klammert werden. Überrascht Sie das?
Stefan Füglister: Nein, schliesslich geht es darum, ein AKW und die Produktion von Atomstrom im besten Licht darzustellen. Hinter dieser Information stecken Werbeleute, nicht Wissenschafter.
Fast zwei Drittel der Besucher seien Schüler, heissts in Gösgen. Wäre es da nicht nötig, die Problematik offen anzusprechen?
Schüler sind das eigentliche Zielpublikum solcher Führungen. Im spielerischen Umgang sollen sie lernen, jegliche Angst vor dieser Technologie abzustreifen. Deshalb sollten sich Lehrkräfte um die Vermittlung von Gegenargumenten bemühen.
Die Führung erweckt den Eindruck, Schweizer Atomkraftwerke seien sicherer als jene in Japan. Teilen Sie diese Ansicht?
Die Funktionsweise eines Atomkraftwerks ist überall dieselbe. Das gilt auch für Risiken und Folgen einer Katastrophe. Nachträglich gebaute Sicherheitssysteme wie in Beznau und Mühleberg mindern bestenfalls die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls. Aber auf den Stand der neusten Technik lassen sich diese alten, über 40-jährigen Atommeiler nicht mehr umbauen.
Es wird behauptet, der Gösgener Strompreis enthalte die Entsorgungskosten. Sind damit AKW-Abbruch und Brennstabentsorgung abgedeckt?
Dieser Preis basiert auf den Entsorgungskosten von 2006. Diese sind meiner Meinung nach viel zu optimistisch geschätzt und zudem erst zu einem kleinen Teil in die Entsorgungsfonds einbezahlt. Allein der Unterhalt eines geologischen Tiefenlagers dürfte viel teurer zu stehen kommen. Aber es fragt sich, ob in 50 Jahren noch eine Kernkraftwerk Gösgen AG oder eine Alpiq AG existiert.
Zahlen demnach die künftigen Steuerzahler die Entsorgung?
Genau. Die Atomindustrie und ihr militärischer Zweig haben weltweit die Schäden, die sie angerichtet haben, nie zahlen müssen. Die Risiken müssen nicht versichert sein. Also zahlt die Allgemeinheit den Preis. Das alles ist in den 4,5 Rappen nicht eingerechnet.
Die Endlagerung radioaktiver Abfälle in einem Tiefenlager wird als nahezu problemlos dargestellt. Wie sehen Sie das?
Im Modell sieht das in der Tat einfach aus. Die Herausforderung ist, richtig einzuschätzen, was sich in 600 Meter Tiefe und in allen Bereichen dazwischen tut und bewegt. Solange diese Zonen im Untergrund nicht durchlöchert und durch Erschütterungen gestört werden, scheinen sie stabil.
Und wenn nicht?
Dann kann sich das schlagartig ändern. Der stabile Zustand und die Sicherheit, dass kein Wasser eindringt, müssen über mehrere 1000 Jahre gewährleistet sein. Das ist eine fast unlösbare Aufgabe. Noch existiert weltweit kein Lager für langlebige hochradioaktive Abfälle.