Rentenklau, amtl. bew.
«Ihr müsst arbeiten gehen oder stempeln»: Nach diesem Motto dürfen die Pensionskassen die Renten von Invaliden kürzen. Ein Betroffener wehrte sich - mit Erfolg.
Inhalt
K-Tipp 4/2006
22.02.2006
Ernst Meierhofer - ernst.meierhofer@ktipp.ch
Das Schreiben kam am 10. Mai und war für den Tessiner Rentner Giorgio Camponovo (Name geändert) ein Schock: «Ab 1. Juni 2005 haben Sie Anspruch auf eine Invalidenrente von 1664 Franken monatlich.» Die bisherige Rente hatte 2512 Franken betragen; der Rentner musste also Knall auf Fall mit einer Kürzung um 848 Franken bzw. 34 Prozent leben.
Absenderin der Botschaft war die Migros-Pensionskasse. Sie zahlt dem heute 57-jährigen Rentner seit 2001 eine Invalidenrente. Camponovo war bei de...
Das Schreiben kam am 10. Mai und war für den Tessiner Rentner Giorgio Camponovo (Name geändert) ein Schock: «Ab 1. Juni 2005 haben Sie Anspruch auf eine Invalidenrente von 1664 Franken monatlich.» Die bisherige Rente hatte 2512 Franken betragen; der Rentner musste also Knall auf Fall mit einer Kürzung um 848 Franken bzw. 34 Prozent leben.
Absenderin der Botschaft war die Migros-Pensionskasse. Sie zahlt dem heute 57-jährigen Rentner seit 2001 eine Invalidenrente. Camponovo war bei der Migros 30 Jahre lang als Chauffeur angestellt, bevor er schwer lungenkrank wurde.
Die Grundlage für den drastischen Schritt ist eine vom Bundesrat beschlossene Verordnungsänderung, die im Januar 2005 in Kraft getreten ist. Sie besagt: Ist der Bezüger einer Invalidenrente nicht zu 100 Prozent invalid, kann ihm die Pensionskasse die Rente kürzen - und zwar um denjenigen Betrag, den der Teilinvalide trotz seiner Behinderung noch dazuverdienen könnte.
Bisher erfolgte eine solche Kürzung nur, wenn der Rentner tatsächlich etwas dazuverdiente.
Camponovo ist gemäss Invalidenversicherung (IV) zu 75 Prozent invalid - das hat ihm die IV noch im Februar 2005 offiziell bestätigt. Er erhält von der IV zwar eine volle Rente, könnte aber rein theoretisch noch 25 Prozent seines letzten Lohns dazuverdienen. Und genau mit diesem Argument kürzte die Migros-Pensionskasse seine Invalidenrente. Ohne Camponovos Gesundheitszustand, Alter oder familiäre Verhältnisse in Betracht zu ziehen.
Betroffene müssen sich selber wehren
Dieses Vorgehen ohne detaillierte Einzelfallprüfung ist höchst umstritten: Im Gesetz steht, eine Rentenkürzung richte sich nach dem «zumutbarerweise noch erzielbaren Erwerbs- oder Ersatzeinkommen».
Was aber ist zumutbar? Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hat den Pensionskassen empfohlen, «jeden Fall einzeln zu beurteilen», um ungerechtfertigte Kürzungen zu vermeiden.
Dabei seien nicht nur Art und Ausmass der Behinderung der betroffenen Personen zu berücksichtigen, sondern auch der «tatsächliche» Arbeitsmarkt, also die effektiven Jobangebote für eine teilinvalide Person in der betreffenden Wohnregion.
Diese Details hat die Migros-Pensionskasse erst abgeklärt, nachdem Camponovo einen Anwalt eingeschaltet hatte. Und prompt musste sie zurückkrebsen. Am 21. November teilte sie Camponovo mit, seine Rente betrage künftig wieder 2512 Franken und er erhalte eine Nachzahlung für die vergangenen fünf Monate.
Begründung: Die IV-Stelle habe seinen Invaliditätsgrad in der Zwischenzeit auf 100 Prozent korrigiert.
Das Beispiel zeigt: Betroffene werden vor vollendete Tatsachen gestellt und müssen sich selber gegen eine Kürzung zur Wehr setzen. Zum Glück hat Camponovo eine Rechtsschutzversicherung, die seine Anwaltskosten beglich.
Handelte Bundesrat gesetzeskonform?
Der vom Kassensturz bekannte Zürcher Patientenanwalt und Sozialversicherungsexperte Ueli Kieser fragt sich gar, ob der Bundesrat mit dieser neuen Regelung das Gesetz überhaupt beachtet hat. «Im Ergebnis bedeutet die Re-gelung nämlich, dass Versicherte mit tiefen Einkommen wohl nur noch in besonderen Fällen überhaupt eine Rente der Pensionskasse erhalten.»
Der K-Tipp hat Pensionskassen von grossen Betrieben und Sammelstiftungen (für Betriebe ohne eigene Pensionskasse) gefragt, wie sie den neuen Gesetzesartikel handhaben.
Das Bild ist uneinheitlich:
- Am konsequentesten gibt sich die Pensionskasse der Swisscom. Sie sagt, die Prüfung jedes einzelnen Falles sei für eine Pensionskasse zu kompliziert und deswegen kürze sie eine Rente in solchen Fällen nie. Auch die Pensionskasse der Stadt Zürich verzichtet in der Regel darauf. Die Bundes-Pensionskasse Publica wendet die neue Gesetzesbestimmung noch nicht an. Eine Anpassung des Reglements ist aber geplant.
- Einige Kassen kürzen ab einem bestimmten IV-Grad nicht mehr: Die Sammelstiftung Nest zum Beispiel setzt die Grenze bei 90 Prozent, weil es unrealistisch sei, eine 10-prozentige Tätigkeit zu finden. Zudem macht Nest einen «Leidensabzug», berücksichtigt also nicht den ganzen möglichen Resterwerb. Pensionskassen-Fachmann Hans-Ulrich Stauffer sagt, bei einem IV-Grad über 80 Prozent sei eine Kürzung abzulehnen. Stauffer ist Autor des Saldo-Ratgebers zu den 3 Säulen.
- Die Sammelstiftung der Helvetia-Patria verschont Invalide gar ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent (ab diesem IV-Grad zahlt die staatliche Invalidenversicherung eine volle Rente).
Manche kürzen nur bei «neuen» Renten
- Viele Sammelstiftungen sagen, dass sie die bereits laufenden Invalidenrenten nicht antasten und nur bei «neuen» Renten kürzen, die ab 2005 oder 2006 zur Auszahlung kommen - zum Beispiel Allianz, Basler, Swisslife und Winterthur. Dies gilt auch für die Roche-Betriebskasse.
- Andere Kassen ignorieren die Empfehlung des BSV, jeden Fall einzeln zu begutachten. Sie wollen sich im Grundsatz rein nach dem IV-Grad und dem von der IV festgelegten hypothetischen Einkommen richten.
Zu ihnen gehören die Betriebs-Pensionskassen von Credit Suisse, Migros, Novartis, SBB und Zürich-Versicherung sowie die Sammelstiftungen Asga, Basler, Veska, Winterthur (mit Ausnahmen) und Zürich. Die UBS-Pensionskasse hat sich zu diesem Punkt nicht geäussert, die Allianz hat noch nicht entschieden.
- Andere sagen, dass sie sich an die Empfehlung des BSV halten und vor jeder Kürzung genau hinschauen. Es sind dies die Sammelstiftungen Abendrot, Helvetia-Patria, Nest und Swisslife, die Betriebskassen von ABB, Post und Roche sowie die Pensionskasse des Kantons Zug.
So rechnet die Pensionskasse
Zählt man bei Rentenbezügern alle Einkünfte zusammen, dürfen diese höchstens 90 Prozent desjenigen Lohnes erreichen, den der Rentenbezüger jetzt noch erzielen würde, wenn er nicht invalid wäre. Im Fachjargon ist das das «Valideneinkommen» - es entspricht weitgehend dem letzten effektiv verdienten Lohn.
Übersteigen die Renten bzw. Einkünfte diese 90-Prozent-Grenze, kann die Pensionskasse die Invalidenrente entsprechend kürzen.
Bei Bezügern von Invalidenrenten zählt seit Anfang 2005 auch das «zumutbarerweise» noch erzielbare Erwerbseinkommen zu diesen anrechenbaren Einkünften.
Gerechnet am Beispiel von Giorgio Camponovo: Sein mutmasslich entgangener Verdienst liegt laut IV-Entscheid bei 4919 Franken, 90 Prozent davon sind 4427 Franken.
Weil er zu 75 Prozent invalid ist, könnte er noch 25 Prozent von 4919, also 1230 Franken, verdienen. Zusammen mit seiner IV-Rente (1533 Franken) sind das 2763 Franken.
Also wollte seine Pensionskasse nur noch die Lücke zwischen den Einkünften (2763.-) und der gesetzlichen 90-Prozent-Grenze (4427.-) füllen; das sind 1664 Franken. Und das, obwohl seine reglementarische Rente von der Pensionskasse bei 2512 Franken läge.
Faktisch bedeutet das: Betroffene Rentenbezüger müssen
- entweder einen Job suchen (was für Teilinvalide speziell schwierig ist)
- sich bei der Arbeitslosenkasse melden und Taggelder beantragen (falls sie die Bedingungen für Stempelgeld überhaupt erfüllen)
- oder Ergänzungsleistungen beantragen bzw. zur Fürsorge gehen.
Patientenanwalt Ueli Kieser sagt, die Gesetzesänderung habe «weitestreichende Auswirkungen» und werde in der Praxis «grösste Probleme aufwerfen».
Inbesondere Rentner mit Kindern, die für ihre Sprösslinge noch Invaliden-Kinderrenten beziehen, würden künftig von der Pensionskasse wenig oder gar nichts mehr erhalten.
Kürzung der IV-Rente: So können Sie sich wehren
- Eine Kürzung ist nur zulässig, wenn das Reglement sie vorsieht.
- Die Pensionskasse muss die Kürzung der Rente mit einer Vorankündigungsfrist von drei bis fünf Monaten bekannt geben. Verlangen Sie einen Aufschub, falls diese Frist nicht eingehalten wird.
- Die Kürzung beruht auf einer «Kann»-Formel im Gesetz. Die Pensionskasse kann kürzen, muss aber nicht.
- Verlangen Sie, dass die Pensionskasse Ihren Fall prüft. Ihre Begründung: Das von der Invalidenversicherung im IV-Entscheid festgelegte «Valideneinkommen» - der Verdienst, der rein theoretisch ohne Behinderung noch möglich wäre - sei angesichts der realen Umstände zu hoch.
- Falls eine Pensionskasse den neuen Rentenentscheid mit der Kürzung beispielsweise Mitte Jahr bekannt gibt und dann sogar rückwirkend eine Forderung für zu viel bezahlte Renten stellt, dürfte sie damit nicht durchkommen. Das wäre «krass stossend», sagt Pensionskassen-Fachmann Hans-Ulrich Stauffer.
- Wenden Sie sich an eine spezialisierte Beratungsstelle. Zum Beispiel:
- Procap Schweizerischer Invalidenverband, Tel. 062 206 88 88, www.siv.ch
- Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patienten, Werdstrasse 36, 8004 Zürich, Tel. 0800 707 277 (kostenlos), www. rechtsberatung-up.ch (siehe K-Tipp 19/05)
BUCH-TIPP: Alles Wichtige zur Pensionskasse steht im Saldo-Ratgeber «Gut vorsorgen: Pensionskasse, AHV und 3. Säule». In diesen Tagen erscheint die aktualisierte Ausgabe 2006.
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