Richter gegen soziale Sicherheit
Inhalt
K-Tipp 19/2000
15.11.2000
Zürcher Versicherungsgericht verweigert Interessenten einen angemessenen Lohnersatz
Viele Krankenkassen wollen ihre Taggeld-Versicherten bei Krankheit mit einem Taschengeld von 30 Franken abspeisen. Diese Praxis ist nun gerichtlich abgesegnet.
Ernst Meierhofer emeierhofer@k-tip.ch
Eine beschämende Lücke schliessen»: Unter diesem Motto hat der Gewerkschaftsbund SGB im April 1998 seine Taggeld-Initiative beschlossen. Ziel war «ein sicheres Einkomme...
Zürcher Versicherungsgericht verweigert Interessenten einen angemessenen Lohnersatz
Viele Krankenkassen wollen ihre Taggeld-Versicherten bei Krankheit mit einem Taschengeld von 30 Franken abspeisen. Diese Praxis ist nun gerichtlich abgesegnet.
Ernst Meierhofer emeierhofer@k-tip.ch
Eine beschämende Lücke schliessen»: Unter diesem Motto hat der Gewerkschaftsbund SGB im April 1998 seine Taggeld-Initiative beschlossen. Ziel war «ein sicheres Einkommen bei Krankheit» für alle.
Dass eine solche Initiative überhaupt nötig wurde, daran sind die Krankenkassen schuld: Viele weigern sich, den Antragstellern einen vernünftigen Lohnersatz bei längerer Krankheit anzubieten.
Der Hintergrund: Wer länger krank ist und über den Betrieb kein Kollektiv-Krankentaggeld versichert hat, erhält vom Betrieb oft schon nach wenigen Wochen keinen Lohn mehr - vor allem dann, wenn das Arbeitsverhältnis erst kurz gedauert hat (K-Tip 12/00). Diesen Lohnausfall kann man versichern - mit einem Taggeld.
Die Krankenkassen sind grundsätzlich verpflichtet, jedem Interessenten eine Taggeldversicherung anzubieten; sie dürfen niemanden ablehnen. Und wenn ein Antragsteller beim Abschluss der Versicherung bereits ein Leiden hat, können die Kassen dieses Leiden zwar im Vertrag von der Deckung ausschliessen - aber nur fünf Jahre lang. Dies bestimmt das Krankenversicherungsgesetz (KVG), das 1996 in Kraft getreten ist.
So weit, so gut - doch den Kassen war der Aufnahmezwang von Beginn weg ein Dorn im Auge. Sie fürchteten, viele gesundheitlich Angeschlagene und Arbeitslose versichern zu müssen.
Krankenkassen haben das Gesetz ausgehebelt
Die meisten Kassen haben deshalb das Gesetz mit einem Trick umdribbelt - indem sie das höchstversicherbare Taggeld so tief ansetzten, dass daraus kein angemessener Lohnersatz resultierte, sondern nur noch ein Taschengeld (siehe K-Tip 5/97).
Am weitesten nach unten ging die CSS, bei der man nur gerade 6 Franken pro Tag versichern kann. 3 der 15 grossen Kassen haben eine Limite von 10 Franken.
Doch selbst mit den 30 Franken, welche Concordia, Eidg. Gesundheitskasse, Helsana, KPT, ÖKK Basel, Krankenkasse SBB, Supra und Visana als Taggeld anbieten, kommt eine versicherte Person im Monat nur auf 900 Franken Lohnersatz bei längerer Krankheit - und damit kann niemand überleben.
Auch Mika Nägeli nicht. Der heute 48-jährige Korrektor wollte sich 1997 bei der Visana einen angemessenen Lohnersatz sichern. Doch die Visana bot nur 30 Franken pro Tag.
Nägeli hat deshalb mit Unterstützung des K-Tip vor Gericht verlangt, die Visana müsse ihn für ein Taggeld von 200 Franken versichern. Seine Anwältin führte aus, die Limite von 30 Franken sei «gesetzwidrig».
Doch Mika Nägeli ist vor dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich abgeblitzt. Das Gericht hielt fest, das KVG verpflichte die Kassen nicht, den Interessenten einen Lohnersatz in angemessener Höhe zu bieten; vielmehr sei die Höhe des Taggeldes Sache der jeweiligen Abmachung zwischen Versicherung und Kunde.
Dazu komme, dass das Parlament bei der Beratung des KVG bewusst darauf verzichtet habe, die Taggeldhöhe gesetzlich zu regeln.
Fazit: Die Kassen haben mit ihrer Boykottstrategie das Gesetz unterlaufen - und haben jetzt noch den «amtlichen» Segen dazu. Bei den meisten Kassen ist es auch weiterhin nicht möglich, einen Erwerbsausfall nach KVG angemessen zu versichern.
Zwar stammt dieser Entscheid nur von einer kantonalen Instanz und nicht vom höchsten Gericht, dem Eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern. Aber: «Ich bezweifle, dass man in Luzern anders entschieden hätte», meint Gebhard Eugster, Ombudsman der sozialen Krankenversicherung.
Der K-Tip hat Mika Nägeli deshalb geraten, den Fall nicht weiterzuziehen.
Auch politisch wird sich bezüglich der Forderung «sicheres Einkommen bei Krankheit für alle» in den nächsten Jahren kaum etwas tun: Der Gewerkschaftsbund hat zwar die Unterschriftensammlung für die Taggeld-Initiative gestartet - im Juli 1999 aber abgebrochen.
Bis hierher war nur vom Taggeld nach KVG die Rede. Die meisten Krankenkassen und viele Versicherungsgesellschaften haben aber auch Taggelder nach den Regeln des Privatversicherungsrechts (VVG) im Angebot.
Die «alten» Taggelder werden immer teurer
Doch leider sind die VVG-Taggelder keine Alternative. Sie sind zwar prämienmässig günstiger - aber hier gibt es keinen Aufnahmezwang. Im Unterschied zum KVG-Taggeld können die Anbieter hier die Interessenten ohne Angaben von Gründen ablehnen.
Die Folge: Junge Gesunde können via VVG ihren Lohnersatz bei längerer Krankheit zu attraktiven Konditionen versichern. Gesundheitlich angeschlagene Antragsteller hingegen gehen leer aus.
Das hat auch eine unmittelbare Folge für diejenigen Versicherten, die aus der Zeit vor 1996 noch ein «altes» soziales Taggeld nach KVG haben - aus der Zeit also, als man bei den Kassen tatsächlich noch einen angemessenen Lohnersatz versichern konnte. Diese schon länger bestehenden hohen Taggelder dürfen die Betroffenen beibehalten - aber sie werden immer teurer.
Was das bedeuten kann, hat die Pro Mente Sana, die Patientenvertretung der psychisch Kranken, am Fall von Roman T. dokumentiert. Der Versicherte musste 1998 für sein KVG-Taggeld eine Prämienerhöhung um 264 Prozent schlucken. Gleichzeitig erwähnte die Kasse die Möglichkeit, ein Taggeld nach VVG abzuschliessen; das sei bedeutend billiger.
Als Roman T. die günstigere VVG-Variante tatsächlich abschliessen wollte, verweigerte ihm die Kasse das Angebot, weil er in psychotherapeutischer Behandlung war (was seine Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigte).
Fazit von Pro Mente Sana: «Roman T. hat keine echte Wahl. Seine Alternative ist die Fortführung des Taggeldes nach KVG mit unerschwinglicher Prämie oder der Verzicht auf einen sinnvollen Versicherungsschutz.»
Und: «Die an diesem Beispiel aufgezeigte Entsolidarisierung wird innert kurzer Zeit dazu führen, dass die soziale Krankentaggeldversicherung nach KVG verschwindet, weil sie nicht mehr bezahlbar ist.»
Die günstigere Variante gibt es nur für Junge und Gesunde
Krankentaggeld heisst: Die Versicherung zahlt für jeden Tag, den die versicherte Person vom Arzt krankgeschrieben ist, das vereinbarte Taggeld aus. In der Regel ist eine Wartezeit beziehungsweise Aufschubfrist vereinbart, das heisst, die Versicherung zahlt das Taggeld nicht von Beginn der Krankheit an, sondern erst dann, wenn diese Wartefrist abgelaufen ist.
Bei Taggeldern nach Krankenversicherungsgesetz (KVG) gibt es einen Aufnahmezwang der Kassen; die Prämien für Männer und Frauen sind zwingend gleich. KVG-Taggelder sind in den letzten Jahren massiv teurer geworden. Für das Jahr 2001 haben einzelne Kassen Prämienerhöhungen um bis zu 25 Prozent angekündigt.
Bei den KVG-Taggeldern dürfen die Kassen Gesundheits-Vorbehalte nur für maximal fünf Jahre anbringen. Vorbehalt heisst: Die Krankenkasse schliesst Krankheiten aus, die bei Versicherungsabschluss bestehen. Arbeitsausfälle wegen dieser genau bezeichneten Krankheiten sind dann nicht versichert.
Anders die VVG-Taggelder nach Privatversicherungsrecht: Sie sind in der Regel günstiger, aber die Anbieter können Interessenten ohne Angabe von Gründen ablehnen. Gesundheits-Vorbehalte gelten hier in der Regel lebenslänglich.
Tipps:
- Einzeltaggeld: Ob Sie selber ein Einzeltaggeld abschliessen müssen, hängt von der Situation in Ihrem Betrieb ab. Erkundigen Sie sich beim Personalchef. Entscheidend ist, wie lange Sie bei Krankheit Lohn vom Betrieb erhalten und ob der Betrieb eine Kollektiv-Krankentaggeldversicherung abgeschlossen hat. Fehlt eine kollektive Lösung für alle, müssen Sie selber aktiv werden und Offerten für ein Einzeltaggeld einholen.
- Hausmänner und -frauen: Auch sie können ein Taggeld versichern.
- K-Dossier: Ausführliche Infos zum Thema sowie einen Prämienvergleich finden Sie im neuen K-Dossier «So sind Sie richtig versichert». Beachten Sie bitte die Bestellmöglichkeit.