Schuften für einen Hungerlohn
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K-Tipp 10/2001
23.05.2001
K-Tipp-Stichprobe 60 von 100 Firmen legen ihre Tiefstlöhne offen
Tiefstlöhne zwischen 2500 und 3000 Franken brutto sind in der Schweiz keine Seltenheit. Jede 2. Firma, die dem K-Tipp geantwortet hat, zahlt Saläre, die hart an der Grenze zum Existenzminimum liegen.
Markus Kellenberger mkellenberger@ktipp.ch
Lohnskandale erschüttern seit Wochen die Schweiz. In regelmässigen Abständen stellen Gewerkschaften und Medien «Lohn-Sünder» an den Prang...
K-Tipp-Stichprobe 60 von 100 Firmen legen ihre Tiefstlöhne offen
Tiefstlöhne zwischen 2500 und 3000 Franken brutto sind in der Schweiz keine Seltenheit. Jede 2. Firma, die dem K-Tipp geantwortet hat, zahlt Saläre, die hart an der Grenze zum Existenzminimum liegen.
Markus Kellenberger mkellenberger@ktipp.ch
Lohnskandale erschüttern seit Wochen die Schweiz. In regelmässigen Abständen stellen Gewerkschaften und Medien «Lohn-Sünder» an den Pranger. «Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auf», sagt Robert Schwarzer von der Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel VHTL. «Auf der einen Seite stehen die Bezüger von Löhnen und Abgangsentschädigungen in Millionenhöhe - auf der andern Seite all jene, die mit Tieflöhnen kaum ihr Leben bestreiten können.»
Deshalb fordern die Gewerkschaften seit letztem Sommer einen gesetzlich garantierten Mindestlohn von 3000 Franken netto.
Der K-Tipp hat 100 namhafte Firmen nach dem kleinsten ausbezahlten Monats-Bruttolohn, nach der Sparte und der Ausbildung der Betroffenen gefragt. 60 der Betriebe legten ihre Zahlen offen, 40 zogen es vor, zu schweigen. Das Resultat ist erschreckend:
Bei 30 Unternehmungen liegen die tiefsten ausbezahlten Brutto-Monatslöhne zwischen 2500 und 3000 Franken.
16 Betriebe zahlen Tiefstlöhne ab 3000 bis 3500 Franken, und nur bei 14 Firmen liegen die kleinsten Saläre über 3500 Franken.
Die Stichprobe bestätigt den Verdacht der Gewerkschaften: Tieflöhne werden hauptsächlich im Detailhandel (Verkauf) und im Gastgewerbe bezahlt. Betroffen sind Berufseinsteiger, ungelernte und gelernte Arbeitskräfte.
Um die Tiefstlöhne zu verteidigen, argumentieren viele betroffene Firmen ähnlich.
Rechtfertigung: Nur wenige betroffen
«Es trifft nur wenige Angestellte.» (Coop, Christ Uhren und Schmuck, H & M, Jumbo, Kiosk AG, Möbel Hubacher, Pick Pay, Spar).
Tatsache ist: In der Schweiz lebt laut dem Bundesamt für Statistik jeder 10. Arbeitende am Rande des Existenzminimums oder sogar darunter. Das sind über 250 000 Frauen und Männer.
Das Existenzminimum liegt für Singles bei ungefähr 3000 Franken, für eine Familie mit zwei Kindern bei rund 5000 Franken netto - mit diesen Beträgen liegen aber Ferien, Auto oder Sparen nicht drin. Die Zahlen hat der Verein für Schuldensanierung in Bern errechnet. Sie schwanken je nach Region und Wohnort um mehrere 100 Franken nach oben und unten.
Rechtfertigung: Boni und Gratifikationen
«Wir zahlen Boni und Gratifikationen aus.» (Christ Uhren und Schmuck, Création Baumann, Denner, Dosenbach-Ochsner, Farbax, H & M, Heggli Transport, Ikea, Interdiscount, Kiosk AG, Loeb, Merkur, Radio TV Steiner, Swisscom).
Bonuszahlungen und Umsatzbeteiligungen sind für VHTL-Generalsekretär Robert Schwarzer «unberechenbare Lohnbestandteile», die nach Belieben ausbezahlt werden können. «Ein Arbeitnehmer muss wissen, wie viel er pro Monat verdient - und nicht, wie viel er bei gutem Geschäftsgang verdienen könnte.»
Und: «Ein 13. Monatslohn ist garantiert, eine Gratifikation nicht.» Kündige ein Arbeitnehmer, habe er - im Gegensatz zum vertraglich zugesicherten 13. Monatsgehalt - keinen Anspruch auf einen Pro-Rata-Anteil der Gratifikation.
Rechtfertigung: Hohe Sozialleistungen
«Wir bieten dafür überdurchschnittliche Sozialleistungen.» (Dipl. Ing. Fust, Loeb).
Für Robert Schwarzer ist es ein «billiger Trick», wenn Arbeitgeber einen Grossteil der Pensionskassenbeiträge oder die ganze Nichtbetriebsunfall-Prämie (NBU) übernehmen. «Nach aussen sieht das grosszügig aus - doch die Firmen sparen auf diese Weise Steuern.»
Rechtfertigung: Tiefe Lebenshaltungskosten
«In Randregionen liegen die Lebenshaltungskosten tiefer.» (Migros, Coop, EPA, Manor).
Dass die Lebenshaltungskosten von Region zu Region um ein paar Franken schwanken, gibt Schwarzer zu. «Doch deswegen Löhne unter 3000 Franken brutto noch mehr zu drücken, grenzt an Schamlosigkeit. Das ist nichts als eine weitere Gewinnoptimierung auf dem Buckel der Ärmsten.»
Rechtfertigung: Rabatte fürs Personal
«Das Personal bekommt Einkaufsrabatte.» (alle Detailhändler).
Wer im Detailhandel arbeitet, kann in der Regel günstiger einkaufen. Bei Coop zum Beispiel bekommt das Personal 10 Prozent Rabatt auf Nonfood-Artikel; im Food-Bereich die fünffache Superpunkte-Zahl. «Das ist schlicht Chabis», sagt Robert Schwarzer. Der Betrieb spare Lohnkosten und steigere den Umsatz, weil das Personal den Rabatt ausnützen wolle.
Rechtfertigung: Höhere Löhne - höhere Preise
«Höhere Löhne müssten die Konsumenten mit höheren Preisen bezahlen.» (APS Reinigungen, Näf Textilreinigung).
Ein Argument, mit dem viele andere Unternehmen nicht offen, aber zwischen den Zeilen operieren. Dahinter steckt die unausgesprochene Drohung: «Wenn wir höhere Löhne zahlen müssen, werden unsere Produkte teurer.» Für die Gewerkschaften ist das unbegründete Angstmacherei. «Konsumentinnen und Konsumenten», so Schwarzer, «zahlen heute bereits indirekt die Zeche für die Tieflohnpolitik der Unternehmer.» Grund: Über die Steuern werden Fürsorge- und Ergänzungsleistungen in Millionenhöhe für in Not geratene Arbeitnehmer finanziert.
Ohne gewerkschaftlichen und öffentlichen Druck sind nur die wenigsten Unternehmen bereit, ihre Tiefstlöhne anzuheben.
Eine Ausnahme macht da Robert Straubhaar. Am 1. März hat er seinen Job als Direktor des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL) angetreten - und mit Erschrecken festgestellt, dass das Innerschweizer Renommierhaus «unzumutbar tiefe Löhne» zahlt.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen hat er das Personal darüber informiert, dass in den nächsten Monaten niemand mehr unter 3000 Franken brutto verdienen werde. «Wenn unsere Wirtschaft funktionieren soll, dann müssen alle gerecht entlöhnt werden», sagt er. Und: «Ich will jedem meiner Angestellten ohne Scham in die Augen schauen können.»
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Pro & Contra
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund will die wachsende Armut unter der arbeitenden Bevölkerung mit einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 3000 Franken netto bekämpfen. Dagegen wehrt sich der Schweizerische Arbeitnehmerverband. Er fürchtet, dass ein Mindestlohn die Schwarzarbeit fördert.
Pro Mindestlohn:
Paul Rechsteiner, Präsident Schweizerischer Gewerkschaftsbund
«Während der Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre sind die Arbeitsbedingungen vor allem in den prekären Sektoren verschlechtert worden. Inzwischen arbeiten Hunderttausende zu Löhnen, die nicht zum Leben reichen. Das ist eine Schande. Wer Vollzeit arbeitet, muss vom Lohn auch leben können.
Die Kampagne des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes verlangt einen monatlichen Mindestlohn von 3000 Franken netto. Das ist bescheiden - und trotzdem ein grosser Fortschritt für viele Betroffene. Die Arbeit der Lohnabhängigen ist keine Billigware und kein Wegwerfartikel.»
Kontra Mindestlohn:
Peter Hasler, Direktor Schweizerischer Arbeitgeberverband
«Die Lohnfindung soll dem Markt überlassen werden. Subsidiär sollen die Sozialpartner die Möglichkeit haben, Mindest- oder Effektivlöhne auszuhandeln. Deutlich über dem Marktlohn liegende Mindestlöhne fördern die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen und erschweren den Neu- und Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit. Zudem müsste ein flächendeckender «Einheitstarif» zu grösseren Verzerrungen der Wirtschafts- und Wettbewerbsstruktur führen.
Mindestlöhne verstärken die Flucht in die Schwarzarbeit. Die Arbeitslosigkeit wäre ein zu teurer Preis für staatliche Mindestlöhne.»