Skandale lassen Bund kalt
Um die Lebensmittelsicherheit stehts nicht zum Besten. Doch der Bund verharmlost das Problem. Nun fordert das Parlament eine unabhängige Stelle.
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K-Tipp 2/2004
28.01.2004
Gery Schwager - gschwager@ktipp.ch
Urs Müller ist mit seiner Geduld am Ende: «Das Bundesamt für Gesundheit muss umgehend einen provisorischen Grenzwert für Acrylamid festlegen», fordert der Berner Kantonschemiker. «Falls Acrylamid, wie das Amt sagt, für bis zu drei Prozent aller Krebsfälle verantwortlich sein könnte, muss man von einer dramatischen Gefahr reden, die keinen Aufschub erträgt.» (Siehe K-Tipp 1/04.)
Mit seiner Forderung hat Müller das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bereits mehrmals konfron...
Urs Müller ist mit seiner Geduld am Ende: «Das Bundesamt für Gesundheit muss umgehend einen provisorischen Grenzwert für Acrylamid festlegen», fordert der Berner Kantonschemiker. «Falls Acrylamid, wie das Amt sagt, für bis zu drei Prozent aller Krebsfälle verantwortlich sein könnte, muss man von einer dramatischen Gefahr reden, die keinen Aufschub erträgt.» (Siehe K-Tipp 1/04.)
Mit seiner Forderung hat Müller das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bereits mehrmals konfrontiert - vergeblich. Das Amt hält einen solchen Grenzwert für «kaum effektiv und auch nicht praktikabel», weil Acrylamid sich ja erst während der Zubereitung bestimmter Kartoffelgerichte wie Pommes frites und Rösti bilde. Ausserdem könne man «das Risiko einer erhöhten Krebsrate durch die Acrylamidaufnahme via Lebensmittel» noch nicht abschliessend abschätzen.
Das klingt nicht gerade so, als ob demnächst mit Taten zu rechnen wäre - was aber nicht sonderlich überrascht. Spätestens seit der BSE-Krise nämlich haben sich die für Lebensmittelsicherheit zuständigen Bundesstellen immer wieder den Vorwurf eingehandelt, zögerlich reagiert oder Gefahren gar verharmlost zu haben:
- Ende Februar 2002 verfügten die Bundesämter für Gesundheit und für Veterinärwesen wegen Antibiotika-Rückständen einen Importstopp für Poulets aus China. Dies allerdings erst, nachdem die Grossverteiler dieses Fleisch bereits selber aus den Regalen entfernt hatten.
- Im Zusammenhang mit dem Skandal um herbizid-belastete Bio-Produkte in Deutschland im Frühsommer 2002 teilte das BAG der Öffentlichkeit mit, es seien keine solchen Lebensmittel in die Schweiz importiert worden. Zu diesem Zeitpunkt waren entsprechende Abklärungen bei Bio Suisse allerdings erst im Gange.
Statt des Verbots gabs einen Grenzwert
- Was das Problem tierischer Verunreinigungen in Getreide betrifft, erliess das BAG nicht etwa ein Verbot, sondern einen Toleranzwert - und das fast zwei Jahre, nachdem erstmals Knochenbruchstücke in Speisemehl gefunden worden waren.
- Im Falle der im Frühjahr 2000 entdeckten Antibiotika-Verunreinigungen in Schweizer Honig pochte das BAG nicht auf die geltende Null-Toleranz, sondern ersetzte diese einfach durch einen Grenzwert.
Konsumentinnen und Konsumenten reagieren auf solche Vorkommnisse zunehmend gereizt. Um die Situation zu verbessern, hat die Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS), SP-Parlamentarierin Simonetta Sommaruga, bereits im Oktober 2001 im Nationalrat die Forderung nach einer unabhängigen Stelle für Lebensmittelsicherheit deponiert. Solche Institutionen kennen Deutschland, Grossbritannien, Österreich und die USA teils schon seit Jahren.
Für Sommaruga ist klar: «In der Schweiz werden Konsumentenanliegen den Interessen der Wirtschaft untergeordnet.» Gerade bei Lebensmitteln aber müssten der Gesundheits- sowie der Täuschungsschutz Priorität haben. Es brauche deshalb eine zentrale Stelle, welche unabhängig über die Lebensmittelsicherheit wachen und informieren könne.
Bauern hoffen auf unabhängige Stelle
An einer «kompetenten Stelle für Lebensmittelsicherheit» wäre laut Urs Schneider, stellvertretender Direktor des Schweizerischen Bauernverbandes, auch die Landwirtschaft sehr interessiert. Heute seien die Zuständigkeiten sowohl innerhalb der Bundesverwaltung als auch zwischen Bund und Kantonen viel zu stark zersplittert, bemängelt Schneider. Zudem müssten stets die Bauern die Folgen der Lebensmittelskandale - Preiszusammenbruch, Absatzprobleme - tragen.
Den Bundesbehörden indes eilts nicht. Man habe bei Lebensmittelkrisen in den letzten Jahren «die besten Massnahmen zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung ausgelöst», glaubt das BAG und versteigt sich zur Behauptung: «So war und ist in der Schweiz zu keinem Zeitpunkt die Sicherheit der Lebensmittel in Frage gestellt.» Praktisch gleich rechtfertigt das Volkswirtschaftsdepartement seine Trägheit, was Verbesserungen im Bereich Lebensmittelsicherheit betrifft.
Doch jetzt kommt Bewegung in die Sache: Der Nationalrat hat sich letzten Dezember klar zugunsten einer unabhängigen Stelle für Lebensmittelsicherheit ausgesprochen. Folgt ihm die Kleine Kammer - und die Chancen stehen laut Ständerätin Sommaruga nicht schlecht -, ist wenigstens eine Basis für Verbesserungen geschaffen.
Braucht es in der Schweiz unabhängige Stellen für Lebensmittel-Sicherheit?
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