Sozialamt will Geld zurück - nach 40 Jahren
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K-Tipp 1/2002
09.01.2002
Erben müssen der Stadt St. Gallen Fürsorgeleistungen zurückzahlen
Fast 7800 Franken verlangt die Stadt St. Gallen von Marcel Walser und seinen Geschwistern. Das Geld hatte Walsers Mutter als Sozialhilfe erhalten - vor 40 Jahren.
Marco Diener mdiener@ktipp.ch
Als Emma Chillante 1957 ihr viertes Kind zur Welt brachte, wurden ihre Geldsorgen noch grösser. Der Mann hatte die Familie verlassen; die Ehe war geschieden. Aber Alimente zahlte er nicht.
Erben müssen der Stadt St. Gallen Fürsorgeleistungen zurückzahlen
Fast 7800 Franken verlangt die Stadt St. Gallen von Marcel Walser und seinen Geschwistern. Das Geld hatte Walsers Mutter als Sozialhilfe erhalten - vor 40 Jahren.
Marco Diener mdiener@ktipp.ch
Als Emma Chillante 1957 ihr viertes Kind zur Welt brachte, wurden ihre Geldsorgen noch grösser. Der Mann hatte die Familie verlassen; die Ehe war geschieden. Aber Alimente zahlte er nicht.
Bis spät in die Nacht ging Emma Chillante putzen und waschen - aber ihr Lohn reichte trotzdem nicht. Schliesslich bat sie die Fürsorgebehörde um Unterstützung.
Ende Juli 2001 starb Emma Chillante. Zwei Monate später erhielt ihr Sohn Marcel Walser vom Sozialamt der Stadt St. Gallen einen Brief.
Nur gerade eine Zeile verwendeten die Verantwortlichen darauf, Walser ihr Beileid auszusprechen. Dann kamen sie zur Sache: Zwischen 1957 und 1967 habe seine Mutter Fürsorgegelder bezogen - insgesamt fast 7800 Franken. Dieses Geld müssten er und seine Geschwister zurückzahlen.
Marcel Walser fiel aus allen Wolken. Er hatte nicht gewusst, dass seine Mutter Fürsorgegelder bezogen hatte; davon war in der Familie nie die Rede. «Sie hätte sich zu Tode geschämt», sagt er.
Noch mehr wundert er sich allerdings über die Forderung der Stadt St. Gallen: «Kann die Stadt die Gelder tatsächlich zurückverlangen? Und wenn ja: Warum tut sie das erst nach 40 Jahren? Meine Mutter war schon 1972 wieder zu Geld gekommen.»
Eine Rückzahlung muss «zumutbar» sein
Der Wortlaut ist klar: Laut dem St. Galler Sozialhilfegesetz müssen Empfänger von Fürsorgeleistungen die Gelder zurückzahlen, «wenn sich ihre finanzielle Lage gebessert hat und die Rückerstattung zumutbar ist».
Stirbt der Empfänger, müssen die Erben zahlen, soweit die Forderung das Erbe nicht übersteigt. Ist kein Nachlass vorhanden, kann der Staat auch nichts verlangen. Ähnliche Regelungen haben alle Kantone.
Der Begriff «zumutbar» ist allerdings dehnbar. «Wenn jemand einen reichen Partner heiratet, kann das die Zumutbarkeit beeinflussen», sagt Rodolphe Dettwiler, Abteilungsleiter im St. Galler Sozialamt. «Rückerstattungspflichtig bleibt aber ausschliesslich die ehemals unterstützte Person.» Und weiter sagt Dettwiler: «Generell verlangen wir Gelder jedoch erst dann zurück, wenn die Person wieder ein normales Leben führt. Dazu können Ferien, ein Fahrzeug oder eine Altersvorsorge gehören. Zudem muss der Nachholbedarf, zum Beispiel bei Kleidern, gedeckt sein.»
Von Emma Chillante habe das Sozialamt zeitlebens nie Geld zurückverlangt, weil es nicht «zumutbar» schien. «Bei Rückerstattungsforderungen von ehemals unterstützten Personen sind wir eher zurückhaltend», sagt Dettwiler.
Bei den Erben hingegen weniger. «Da gibt es ein einziges Kriterium: die Höhe der Erbschaft», erklärt er. Weil Walser und seine Geschwister von ihrer Mutter mehr als die bezogenen 7800 Franken geerbt haben, müssen sie den ganzen Betrag zurückzahlen.
Aufwand macht sich nicht immer bezahlt
Rosmarie Ruder, Geschäftsführerin der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos), hat festgestellt, dass Sozialämter wieder vermehrt versuchen, Fürsorgegelder zurückzuholen. «Lange war dies kaum ein Thema», sagt sie. «Aber angesichts der steigenden Ausgaben versuchen jetzt die Gemeinden möglichst viel wieder hereinzuholen.»
Ob sich das wirklich bezahlt macht, bezweifelt Rosmarie Ruder. «Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist schlecht. Die Sozialämter müssen ihre ehemaligen Klienten ständig kontrollieren. Sie müssen verfolgen, wohin sie zügeln. Und dann womöglich Steuerauszüge aus einem anderen Kanton verlangen.»
Wegen einer Rückforderung von ein paar Tausend Franken lohnt es sich kaum, während Jahrzehnten einen derartigen Aufwand zu treiben. Die meisten Kantone haben deshalb in ihren Sozialhilfegesetzen eine Verjährungsfrist von 10, 15 oder 20 Jahren festgeschrieben.
Auch der Kanton St. Gallen kennt mittlerweile eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Stichdatum für alle alten Fälle ist aber der 1. Januar 1999, der Tag, an dem das neue Gesetz in Kraft trat. Mit anderen Worten: Die Forderung der Stadt St. Gallen im Fall Chillante verjährt erst am 31. Dezember 2013, also 56 Jahre nach der ersten Zahlung.
Marcel Walser und seine Geschwister müssen die knapp 7800 Franken wohl oder übel zurückzahlen. Nur eines grämt ihn fast noch mehr: «Die Stadt hat ein gut gehütetes Geheimnis unserer Mutter verraten und ihr die Ehre genommen.»