«Wie alt ist diese Frau?», fragte mein Vater und zeigte uns Kindern eine Zeichnung, ein Vexierbild. «18 Jahre», rief mein Bruder, «21», meinte meine Schwester, «82», sagte ich. Tja, und schon ging das Geschrei los. «Spinnst du? Die Frau ist doch jung!», «ach was, das ist eine alte Hexe mit krummer Nase», «guck doch genau hin!». Das war eine Gaudi. Mein Vater lachte, er hatte uns mal wieder drangekriegt.
Das war in den Sommerferien am Wocheiner See in Slowenien, wir sassen im Zelt, es regnete schon seit Tagen. So vertrieben wir uns die Zeit mit Kartenspiel und Rätselraten.
Es dauerte lange, bis ich in der alten Frau die junge entdeckte. Eine optische Täuschung. Seither mag ich Vexierbilder: die Maus und der Mann mit Brille, die Vase und die Gesichter, der Saxofonspieler und die Frau. Damals habe ich eine Lektion gelernt: Vieles, was du siehst, scheint nur so. Hinter dem Offensichtlichen verbirgt sich manchmal sogar das Gegenteil. Ändere deine Perspektive, trete einen Schritt zur Seite, betrachte die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln.
Genau hinschauen und nicht vorschnell urteilen, das hilft mir auch bei meiner Arbeit als Journalist. Im Kassensturz bringen wir unsere Geschichten zumeist auf den Punkt, fadengerade, schwarz-weiss. Es gibt Täter und Opfer. Doch manchmal kippt das Bild: Hinter dem Halsabschneider verbirgt sich eine traurige Geschichte, die vieles erklärt. Der vermeintliche Gauner entpuppt sich plötzlich auch als Opfer: Er ist arbeitslos, muss sich irgendwie durchschlagen, wollte niemandem schaden. Opfer? Täter? Das ist nicht immer so klar, wie es anfangs scheint. Wie bei einem Vexierbild.