Wenn medizinische Laien Doktor spielen
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K-Tipp 20/2000
29.11.2000
Kostengutsprachen Krankenkassen weisen Gesuche häufig ab - obwohl kein Vertrauensarzt die Fälle begutachtet hat
Bei Krankenkassen entscheiden oft Laien, ob eine Behandlung bezahlt wird. «Dies ist skandalös», findet der Kieferchirurg Patrik Gründler.
Patrick Gut pgut@k-tip.ch
Der Hals von Peter Zeier (Name geändert) war stark angeschwollen. Zeier litt unter heftigen Schmerzen. Um 11 Uhr liess er sich in der Praxis untersuchen, um 13 Uhr lag er b...
Kostengutsprachen Krankenkassen weisen Gesuche häufig ab - obwohl kein Vertrauensarzt die Fälle begutachtet hat
Bei Krankenkassen entscheiden oft Laien, ob eine Behandlung bezahlt wird. «Dies ist skandalös», findet der Kieferchirurg Patrik Gründler.
Patrick Gut pgut@k-tip.ch
Der Hals von Peter Zeier (Name geändert) war stark angeschwollen. Zeier litt unter heftigen Schmerzen. Um 11 Uhr liess er sich in der Praxis untersuchen, um 13 Uhr lag er bereits auf dem Operationstisch. Der Kieferchirurg entfernte ihm notfallmässig einen grossen Abszess. Ohne sofortigen Eingriff wäre der Patient möglicherweise erstickt.
Die Überraschung folgte ein paar Wochen später: Zeiers Krankenkasse lehnte das Kostengutsprache-Gesuch des Chirurgen ab, wollte also für die Behandlung nicht zahlen. Begründung: Für eine Zahnbehandlung bestehe keine Leistungspflicht.
Kieferchirurg Gründler ist überzeugt, dass nur ein medizinischer Laie zu dieser Begründung kommen kann, also nie ein Vertrauensarzt den Fall begutachtet hat. Tatsache ist: Das Aufschneiden eines Abszesses am Hals hat mit einer Zahnbehandlung nichts zu tun. Patient Zeier gab deshalb nicht nach und klagte vor Gericht. Bevor es zu einem Urteil kam, krebste die Krankenkasse zurück und übernahm die Kosten.
Für Kieferchirurg Patrik Gründler aus St. Gallen ist der Fall Zeier nur eines von vielen Beispielen aus dem Praxis-Alltag. Krankenkassen würden Kostengutsprache-Gesuche des Öfteren abweisen mit dem Argument, es handle sich um eine Zahnbehandlung. Ob eine Massnahme medizinisch notwendig ist oder nicht, spiele da offenbar keine Rolle. «Und dass es medizinische Laien sind, die zu Resultaten kommen wie im Fall Zeier, ist skandalös.»
Ärzte-Präsident kritisiert die Praxis der Kassen
Hans Heinrich Brunner, Präsident der Schweizer Ärztevereinigung (FMH), geht noch einen Schritt weiter: «Selbstverständlich müssen qualifizierte Kostengutsprache-Gesuche durch einen Arzt geprüft werden. Es ist uns aber bekannt, dass die Krankenkassen diese Kostengutsprache-Gesuche häufig durch unqualifizierte Personen bearbeiten lassen.»
Das kann Otto Piller, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung, fast nicht glauben. Ihm seien keine Fälle bekannt, in denen Laien über medizinische Fragen entschieden hätten. «Sollte es das geben, gehe ich der Sache gerne nach und schreite ein», verspricht Piller. Denn für ihn ist klar: «Zu medizinischen Fachfragen haben in jedem Fall Vertrauensärzte Stellung zu nehmen.»
Auch Gebhard Eugster, Ombudsman der sozialen Krankenversicherung, sieht das so. Gerade bei Kostengutsprache-Gesuchen von Kieferchirurgen handle es sich in der Regel um sehr komplexe Fragen, zu deren Beantwortung man einen Zahnmediziner beiziehen müsse. Gehe es um medizinische Fachfragen, könnten medizinische Laien den Versicherer nicht beraten. «Dies wäre abwegig.»
Eugster höre von Ärzten gelegentlich die Kritik, dass die Vertrauensärzte der Krankenkassen KostengutspracheGesuche gar nicht zu Gesicht bekommen, obschon die Gesuche direkt an sie adressiert seien. Eugster weiss nicht, ob diese Kritik zutrifft, er sagt aber: «Passieren darf es jedenfalls nicht, denn vertrauensärztlich ist nur, was der Vertrauensarzt tut.»
Dieser Meinung ist Kieferchirurg Gründler ebenfalls. «Heute fahren die Krankenkassen mit den Versicherten Schlitten», betont er und fordert: «Falls eine Krankenkasse ein medizinisch begründetes KostengutspracheGesuch ablehnt, muss zwingend ein Vertrauensarzt involviert sein, da allein dieser das nötige medizinische Fachwissen zur Beurteilung des Gesuches hat.»
Nur «heikle Fälle» landen beim Vertrauensarzt
Offiziell geht bei den Krankenkassen schon jetzt jedes umstrittene Gesuch über das Pult des Vertrauensarztes. Bloss stellt sich die Frage, weshalb sich beim Kieferchirurgen Gründler trotzdem Fälle wie jener von Peter Zeier stapeln.
Fest steht zumindest: Die Krankenversicherer gehen mit Kostengutsprache-Gesuchen unterschiedlich um. Dies ergab eine Umfrage des K-Tip bei den grösseren Schweizer Krankenkassen. Bei einzelnen Kassen beurteilen Sachbearbeiter ohne medizinische Ausbildung bis zu 90 Prozent der Kostengutsprache-Gesuche (z. B. Supra). Nur die so genannt heiklen Fälle landen beim Vertrauensarzt.
Bei anderen gilt die Regel, dass Kostengutsprache-Gesuche jeweils im Falle eines ablehnenden Entscheids zur Überprüfung zum Vertrauensarzt gehen (z. B. Concordia).
Wenig Freude an dieser Situation hat Margrit Kessler von der Schweizerischen Patientenorganisation: «Es besteht die Gefahr, dass gewisse Versicherungen die Versicherten in der obligatorischen Grundversicherung ungleich behandeln. Das sollte nicht sein.»
Kostengutsprache: So vermeiden Sie böse Überraschungen
- Mit einem schriftlichen KostengutspracheGesuch kann der Arzt bei der Krankenkasse abklären ob diese die Kosten für eine medizinische Leistung übernimmt. In vielen Fällen ist gar kein Gesuch nötig.
- Steht eine Behandlung bevor, die ein Kostengutsprache-Gesuch notwendig macht, vergewissern Sie sich zuerst bei Ihrem Arzt, ob es sich bezüglich Kostenübernahme durch die Krankenkasse um einen eindeutigen Fall handelt. Ist Ihr Fall heikel, kann es sich lohnen, das Kostengutsprache-Gesuch direkt an den Vertrauensarzt der Krankenkasse zu adressieren.
Falls Ihre Krankenkasse das Gesuch ablehnt und damit die Leistungspflicht verneint:
- Sprechen Sie mit Ihrem Arzt; er hilft Ihnen dabei, von der Kasse unentgeltlich eine beschwerdefähige Verfügung zu verlangen. Die Kasse muss darin darlegen, wie sie zu ihrem negativen Entscheid gekommen ist. Die Verfügung enthält eine Rechtsmittelbelehrung und einen Termin.
- Machen Sie ein Wiedererwägungsgesuch bei der Krankenkasse, Ihr Arzt berät Sie dabei. Dieses Gesuch kostet Sie nichts.
- Führt dies nicht zum Erfolg, können Sie sich an die Schweizerische Patientenorganisation wenden (Tel. 0900 56 70 47 für Fr. 2.13/Min.) oder an den Ombudsman der sozialen Krankenversicherung (Tel. 041 226 10 10).
- Führt all das nicht zu einer Kostenübernahme durch die Krankenkasse, bleibt Ihnen noch der Gang vors kantonale und danach - in höchster Instanz - vors Eidgenössische Versicherungsgericht.
Die Verfahren sind unentgeltlich, und Sie müssen die Anwaltskosten der Krankenkasse auch dann nicht zahlen, wenn Sie abblitzen. Falls Sie einen eigenen Anwalt beiziehen, müssen Sie diese Kosten in der Regel selber tragen.