Inhalt
K-Tipp 15/2000
20.09.2000
Polizisten behandelten unbescholtene Verkäuferin wie eine Schwerverbrecherin
Die Kantonspolizei Zürich behandelt Zeugen gleich wie beschuldigte Straftäter - mit Handschellen und Leibesvisitation. Das gilt selbst dann, wenn die Zeugen beteuern, keine Vorladung erhalten zu haben.
Thomas Müller tmueller@k-tip.ch
Freitag, 2. Juni 2000, um 6.15 Uhr. Es läutet an der Wohnungstür von Doris Vollenweider in Erlenbach ZH. Sie wacht auf und geht zur Tür. ...
Polizisten behandelten unbescholtene Verkäuferin wie eine Schwerverbrecherin
Die Kantonspolizei Zürich behandelt Zeugen gleich wie beschuldigte Straftäter - mit Handschellen und Leibesvisitation. Das gilt selbst dann, wenn die Zeugen beteuern, keine Vorladung erhalten zu haben.
Thomas Müller tmueller@k-tip.ch
Freitag, 2. Juni 2000, um 6.15 Uhr. Es läutet an der Wohnungstür von Doris Vollenweider in Erlenbach ZH. Sie wacht auf und geht zur Tür. Im Treppenhaus stehen drei Polizisten in Uniform, zwei Frauen und ein Mann. Sie eröffnen ihr, dass sie mitkommen müsse nach St. Gallen. Zur Einvernahme in einem Sexualdelikt.
«Die polizeiliche Zuführung kann laut der St. Galler Strafprozessordnung angeordnet werden, wenn der Vorgeladene nicht erscheint oder Gefahr im Verzug ist», erklärt der St. Galler Untersuchungsrichter Thomas Hansjakob später gegenüber dem K-Tip.
Er habe Frau Vollenweider bereits auf den 29. Mai 2000 schriftlich vorgeladen, aber sie sei nicht erschienen.
Die drei Polizeibeamten betreten Doris Vollenweiders Wohnung. Während die Verkäuferin sich schnell anzieht, schauen sich die Polizisten in ihren Räumlichkeiten um und durchsuchen ihre Kleider sowie ihre Handtasche.
Als die Frau aufs WC muss, verlangen die Beamten, dass sie die Tür offen lässt. Nachher muss sie den Slip nochmals hinunterstreifen, damit eine der Polizistinnen kontrollieren kann, ob sie nichts darin versteckt hat. Solche Kontrollen seien «normal», erklären ihr die Beamten. Doris Vollenweider, die keinerlei Vorstrafen hat, kann das nicht glauben. Sie beteuert immer wieder, dass sie nicht einmal eine Vorladung erhalten hat.
«Die schriftliche Vorladung an Frau Vollenweider erfolgte nicht eingeschrieben», räumt Thomas Hansjakob hinterher ein. Das sei in dringenden Fällen üblich, «weil sonst die Gefahr besteht, dass nicht die Vorladung, sondern nur die Abholungseinladung im Briefkasten des Adressaten landet, und er deshalb die Vorladung zu spät abholt».
Vor der Abfahrt packt Doris Vollenweider noch ihre Asthmasprays in die Handtasche. Dann gehts los, zuerst zum Polizeiposten Erlenbach, wo sie ihre Verhaftung unterschreiben muss, anschliessend nach Zürich. Auf ihre wiederholte Frage, was sie verbrochen habe, erhält sie von den Polizisten keine Antwort.
Erst später stellt sich heraus, dass dem Untersuchungsrichter ein Lapsus passiert ist. «Ich habe auf dem Zuführungsbefehl an die Polizei nicht vermerkt, dass Frau Vollenweider als Zeugin und nicht als Angeschuldigte benötigt wird», gesteht Thomas Hansjakob. Das habe er einem der beteiligten Polizisten aber noch vor der Verhaftung Vollenweiders am Telefon mitgeteilt.
In Zürich wird Doris Vollenweider mit Handschellen gefesselt und in einen fensterlosen Kastenwagen - einen so genannten «Gefängniswagen» - verfrachtet. Die Handtasche mit den Asthmasprays muss sie abliefern. Während der ganzen Fahrt nach St. Gallen hat sie Angst vor einem Asthmaanfall.
Die Kantonspolizei Zürich verteidigt das Vorgehen ihrer Beamten: «Wir transportieren jährlich rund 30000 Arrestantinnen und Arrestanten. Diese hohe Zahl von Zuführungen erfordert einen schematischen, in internen Vorschriften geregelten Ablauf», erklärt Informationschef Hans Baltensperger.
Individuelle Abklärungen, ob Handschellen benötigt würden, seien für die Polizisten «praktisch nicht durchführbar».
Im Klartext: Die Zürcher Kantonspolizei unterscheidet bei Zuführungen nicht zwischen Zeugen und angeschuldigten Straftätern.
Bei der Ankunft in St. Gallen übernimmt eine St. Galler Kantonspolizistin Doris Vollenweider. Sie fesselt ihr die Hände auf den Rücken. Nicht einmal zum Putzen der Nase nimmt sie der Zeugin die Handschellen ab. Sie könne den Schnuder ja hinaufziehen, sagt die Polizistin.
Die Kantonspolizei St. Gallen habe die Frau bei der Übernahme «als Häftling» betrachtet, weil sie im Gefängniswagen transportiert worden sei, erklärt Polizeisprecher Hanspeter Eugster. «Den Fehler haben die Zürcher Kollegen gemacht, wir haben Frau Vollenweider nur übernommen.»
Unter den neugierigen Blicken der Passanten führt die Beamtin Doris Vollenweider ums Polizeigebäude herum. Die Odyssee endet erst im Büro von Untersuchungsrichter Thomas Hansjakob.
Der Untersuchungsrichter stellt seiner Zeugin im Nachhinein ein gutes Zeugnis aus: «Sie war umfassend bereit, über ihre Wahrnehmungen auszusagen, obwohl sie kurz zuvor derart falsch behandelt worden war. Das ist ihr hoch anzurechnen.»
Nach der Einvernahme reist Doris Vollenweider allein nach Hause. Ohne Begleitung muss sie zuerst den Bahnhof suchen, da sie sich in St. Gallen nicht auskennt.
Am 21. Juni 2000 schickt sie dem Untersuchungsrichter eine Spesenrechnung über 192 Franken für ihren Arbeitsausfall und das Zugbillett. Gleichzeitig fordert sie eine «Entschädigung für die demütigende Abführung».
Sechs Wochen später erhält sie von Thomas Hansjakob ihre Spesen ersetzt. Als Entschädigung überweist er zusätzlich 58 Franken. Auf Nachhaken von Doris Vollenweider erklärt sich der Untersuchungsrichter bereit, eine höhere Entschädigung zu prüfen, «sofern auch die Kapo Zürich mitmacht».
Die Zürcher Kantonspolizei teilt dem K-Tip mit, sie werde keine Genugtuung zahlen: «Die Polizistinnen und Polizisten der Kantonspolizei Zürich haben gemäss den geltenden Vorschriften korrekt gehandelt.» Trotzdem will die Kapo ihre Praxis «eingehend überprüfen, weil die gewählte Zuführungsart im Fall Vollenweider auch uns nicht in allen Teilen zu befriedigen vermag».
Kantonspolizei Zürich ist allein auf weiter Flur
Harmlose Zeugen wie Verbrecher abführen: Mit dieser Praxis steht die Kantonspolizei Zürich ziemlich einsam da.
Es sei «wohl nicht rechtmässig», Zeugen gleich zu behandeln wie Angeschuldigte, kommentiert Strafrechtsprofessor Marcel Niggli von der Uni Freiburg das Vorgehen der Zürcher Kantonspolizei.
Die Zürcher Gesetzeshüter stehen mit ihrer Handlungsweise denn auch quer in der Landschaft. Zumindest in den vom K-Tip angefragten Kantonen Basel-Stadt, Luzern und St. Gallen geht die Polizei mit Zeugen anders um als mit Angeschuldigten.
- «Bei uns werden Zeugen nicht im Gefängniswagen und auch nicht mit Handschellen vorgeführt», sagt etwa Hanspeter Eugster, Sprecher der Kantonspolizei St. Gallen.
- Sein Luzerner Kollege Rolf Koch ergänzt: «Es ist unverhältnismässig, einen Zeugen zu fesseln, der sich nicht wehrt.»
- Auch für Markus Melzl von der Staatsanwaltschaft Basel ist es «selbstverständlich, dass wir mit Zeugen schonungsvoll umgehen».
- Die Kantonspolizei Bern lässt sich nur die Aussage entlocken, dass sie «immer nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit» vorgeht. Was das konkret heisst, kann oder will Sprecher Heinz Pfeuti nicht sagen.
Das sind die Rechte und Pflichten von Zeugen
Die Strafprozessordnungen sind von Kanton zu Kanton verschieden. Meist gilt aber Folgendes:
Vor der Einvernahme
- Jedermann muss einer Vorladung als Zeuge Folge leisten (so genannte «Erscheinenspflicht»). Das gilt auch dann, wenn sie oder er glaubt, zur Aufklärung des Falles nichts beitragen zu können, oder sich aufs Zeugnisverweigerungsrecht berufen will.
- Eine Vorladung kommt nicht unbedingt eingeschrieben. In dringenden Fällen verschicken Untersuchungsrichter/Bezirksanwälte Vorladungen oft mit gewöhnlicher A-Post. Das ist zulässig.
- Wer unentschuldigt fernbleibt, muss damit rechnen, polizeilich vorgeführt zu werden. Die Polizei darf aber nur dann Gewalt anwenden, wenn ein Zeuge Widerstand leistet. Sonst darf sie ihm beispielsweise keine Handschellen anlegen.
- Gegen ein allzu rüdes Vorgehen der Polizei können sich Betroffene kaum wehren. Im Kanton Zürich dürfen sie nicht einmal mit einem Anwalt telefonieren. Laut Kantonspolizei können Zeugen erst nachträglich beim Kommando eine Beschwerde einreichen.
Während der Einvernahme
- Untersuchungsbeamte und Gerichte müssen jeden Zeugen auf ein ihm allenfalls zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht hinweisen und ihn darauf aufmerksam machen, dass Falschaussagen strafbar sind. Sonst ist die Einvernahme ungültig.
- Folgende Personen müssen zwar vor dem Untersuchungsrichter oder vor Gericht erscheinen, haben aber je nach Kanton ein Zeugnisverweigerungsrecht:
Nahe Verwandte der beschuldigten Person (Eltern, Grosseltern, Kinder, Enkel, Brüder, Schwestern, Schwäger, Schwägerinnen).
Der Ehegatte des Beschuldigten; der geschiedene Ehegatte nur, wenn sich die Frage auf die Zeit während der Ehe bezieht. In einigen Kantonen dürfen auch Konkubinatspartner die Aussage verweigern.
Alle Zeugen dürfen die Antwort auf Fragen verweigern, mit der sie sich selber oder einen der erwähnten Verwandten einer Strafverfolgung aussetzen würden.
Opfer körperlicher Gewalttaten müssen keine Fragen beantworten, die ihre Intimsphäre betreffen.
Pfarrer, Rechtsanwälte, Ärzte und Zahnärzte (nicht aber Tierärzte) sowie ihre Hilfspersonen wie Sekretärinnen, Krankenschwestern usw. Dieses Zeugnisverweigerungsrecht ist aber auf Geheimnisse beschränkt, die ihnen auf Grund ihres Berufes anvertraut wurden oder die sie bei der Ausübung ihres Berufes erfahren haben. Kein Zeugnisverweigerungsrecht haben mindestens im Kanton Zürich Psychologen, Sozialarbeiter, Vormünder, Beistände und Bankangestellte.
- Zeugen müssen wahrheitsgemäss darüber Auskunft geben, was sie gesehen oder gehört haben. Wer unberechtigterweise die Aussage verweigert, dem droht eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Unabhängig davon riskiert er in gewissen Kantonen eine maximal 24-stündige Beugehaft, falls es um die Abklärung eines schweren Delikts geht.
Nach der Einvernahme
- Alle Zeugen können eine Spesenentschädigung verlangen - zum Beispiel für Reisekosten. Selbständige Berufstätige haben ausserdem Anspruch auf eine Erwerbsausfall-Entschädigung. Angestellte, die wegen einer Zeugenaussage am Arbeitsplatz fehlen, haben vom Arbeitgeber den vollen Lohn zugut.
«Die Polizei operiert immer häufiger mit Handschellen»
Niklaus Oberholzer, Lehrbeauftragter für Strafprozessrecht an der Hochschule St. Gallen, zur Verhaftung von Zeugen.
K-Tip: Herr Oberholzer, wurden Sie auch schon mit Handschellen verhaftet?
Niklaus Oberholzer: Nein, weder mit noch ohne Handschellen.
Darf die Polizei einen Zeugen, der keinen Widerstand leistet, bei der Zuführung einer Leibesvisitation unterziehen, ihm Handschellen anlegen und ihn in einem Gefängniswagen transportieren?
Die erwähnten Massnahmen scheinen mir in Bezug auf Zeugen unverhältnismässig zu sein. Zeugen sind ja - im Gegensatz zu Angeschuldigten - an der Straftat nicht beteiligt. Deshalb müsste die Polizei sie auch anders behandeln.
Was sagen Sie dann zur Praxis der Kantonspolizei Zürich, die geltend macht, bei jährlich 30000 Transporten von Arrestanten sei eine Unterscheidung nicht möglich?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Auf dem Zuführungsbefehl des Untersuchungsbeamten steht ja, ob es sich um einen Zeugen oder um einen Angeschuldigten handelt. Danach können sich die Polizisten richten. In anderen Kantonen funktioniert das meines Wissens auch.
Ist das Vorgehen der Polizei bei Zuführungen in letzter Zeit allgemein härter geworden?
Ich weiss aus meiner Zeit als Strafverteidiger, dass die Polizei immer häufiger mit Handschellen operiert. Das ist einerseits verständlich, denn die Polizisten wollen sich selber schützen. Viele wollen auch nicht riskieren, zum Gespött der Kollegen zu werden, wenn ihnen jemand abhaut.
Auf der anderen Seite steigt natürlich auch die Gefahr, dass Personen bei der Zuführung unverhältnismässig behandelt werden.