Vergangenen August geschah, wovor SBB-Mitarbeiter ihre Chefs vergeblich gewarnt hatten: Eine defekte Tür klemmte in Baden AG einen 54-jährigen Zugbegleiter ein. Der Zug fuhr trotzdem los und schleifte den SBB-Mitarbeiter mehrere Kilometer mit. Zehn Tage später kündigten die SBB an, alle Türen des betroffenen Wagentyps zu überprüfen.
Untersuchungen ergaben: Der Einklemmschutz Dutzender Zugtüren funktionierte nicht zuverlässig. Die SBB versprachen damals, alle defekten Türen umgehend zu reparieren oder sie zu sperren.
Ende August 2019 schrieben die Bundesbahnen dann in einer Medienmitteilung, die Sicherheit bei den Zugtüren sei nun gewährleistet.
Der K-Tipp verlangte Einblick in Daten
Doch das trifft nicht zu. Nach dem Tod des Zugbegleiters kam es nämlich zu weiteren Türdefekten mit Unfallfolgen. Das ergeben Recherchen des K-Tipp. Die Redaktion hat mit dem Öffentlichkeitsgesetz Einsicht in die Unfalldatenbank des Bundesamts für Verkehr verlangt und diese ausgewertet. Das Resultat ist brisant:
Mindestens 35 SBB-Passagiere wurden seit dem Todesfall in Baden durch defekte Türen verletzt – und zwar so gravierend, dass sie zum Arzt oder ins Spital mussten (siehe Tabelle im PDF). Auch ein Mitarbeiter geriet zwischen die Zugtüren.
Zur Ursache heisst es in den Unfallprotokollen des Bundesamts für Verkehr in sämtlichen 36 Fällen: «Technischer Defekt Reisezugwagen – Tür/Türsteuerung». Sprich: Die Türen schlossen sich unvermittelt und klemmten die Passagiere ein.
30 Unfälle ereigneten sich beim Ein- oder Aussteigen. In drei Fällen klemmten Abteiltüren die die Passagiere ein.
In drei weiteren Fällen waren laut SBB die Schiebetritte nicht korrekt programmiert, so dass zwischen Perron und Zug ein Spalt blieb.
Bei allen 36 Unfällen handelt es sich um Personen, die sich in SBB-Zügen verletzt haben – Privatbahnen wie RHB, BLS usw. meldeten keinen Unfall wegen defekten Türsystemen.
Die Unfälle hatten für die Betroffenen schmerzhafte Folgen: Ärzte mussten Prellungen, Schürfungen und Folgen von Stürzen behandeln.
Einer der 36 Unfälle war besonders gravierend. Im März dieses Jahres versuchte ein Passagier im Bahnhof Bern, eine sich schliessende Tür aufzuhalten. Er blieb mit der Hand stecken und der Zug fuhr los. Rund 45 Meter musste der Mann neben dem Zug herrennen, bis es ihm endlich gelang, die Hand aus der Tür zu ziehen. Er kam mit einer Prellung davon.
Wie bei dem tödlichen Unfall in Baden ein halbes Jahr zuvor hatte nicht nur der Einklemmschutz versagt. Der Zug hätte auch gar nicht losfahren dürfen, da die Tür nicht richtig geschlossen war.
«Bei Widerstand muss sich die Tür öffnen»
Jürg Hurni von der Gewerkschaft des Verkehrspersonals findet solche Vorfälle inakzeptabel. «Wenn die Tür einen Widerstand erkennt, muss sie sich wieder öffnen.» Das Personal verlange seit einem Jahr, dass die Technik endlich einwandfrei funktioniere. «Dort, wo das nicht der Fall ist, müssen die Türen umgehend repariert oder ersetzt werden.»
Es komme immer wieder vor, dass Zugbegleitern eine Tür «mit ziemlicher Wucht in den Rücken knallt». Meldungspflichtig sind aber nur Fälle, die eine ärztliche Behandlung erfordern. So wie beim Fall des verunfallten Zugbegleiters. Er wurde vor einem halben Jahr im Bahnhof Thun BE in einer Tür eingeklemmt, als er aussteigen wollte. Anschliessend musste er zum Arzt.
Türen müssen erst bis 2023 ersetzt werden
Die eidgenössischen Aufsichtsbehörden reagierten zwar auf diese dramatischen Vorkommnisse: Das Bundesamt für Verkehr verlangt von den SBB, dass sie Türen mit unzuverlässigem Einklemmschutz ersetzen. Die Bundesbahnen erhalten dafür allerdings Zeit bis ins Jahr 2023.
Im Zentrum stehen dabei einstöckige ältere Waggons des Typs EW 4. Das Bundesamt liess bisher nur diesen Wagentyp untersuchen.
Das Problem könnte aber grösser sein. Das zeigen die Recherchen des K-Tipp: Er glich die Zugnummern in den Daten des Bundesamts ab und kommt zum Schluss: Bei mindestens fünf Unfällen waren S-Bahn-Züge involviert. Also bringt nicht nur der EW4 Reisende und Zugbegleiter mit seinen unsicheren Türen in Gefahr. Das Bundesamt für Verkehr wollte den K-Tipp-Befund nicht kommentieren.
Einige S-Bahn-Züge hätten schon mehrere Millionen Kilometer hinter sich, erklärt ein Lokführer gegenüber dem K-Tipp: «Natürlich funktioniert die Technik irgendwann nicht mehr einwandfrei.»
Umso wichtiger sei der Unterhalt: «Leider wurde dieser Bereich kaputtgespart. Die Kollegen haben oft nicht genug Zeit, alle sicherheitsrelevanten Mängel zu erkennen.»
Die SBB versprechen, die Türsoftware zu revidieren. Täglich würden 2 Millionen Leute ein- und aussteigen. SBB-Sprecher Reto Schärli: «Jeder Fall, bei dem eine Person verletzt wird, ist ein Fall zu viel.» Nicht alle der Verletzungen seien auf technische Mängel zurückzuführen. Es sei wichtig, dass Reisende nicht versuchen, eine sich schliessende Tür aufzuhalten.
Schuld auf Reisende abgeschoben
Mit anderen Worten: Die Bahn schiebt eine Teilschuld für den nicht funktionierenden Klemmschutz auf die Passagiere ab. Ähnlich argumentiert das Bundesamt: «Wir stellen eine Häufung der Meldung von Unfällen bei Eisenbahntüren fest. Wir wissen, dass Passagiere in den Zug hineindrängen, obwohl der Schliessprozess bereits im Gang ist.» Direkten Handlungsbedarf sieht das Bundesamt für Verkehr nicht. Man überwache die Wartung der Türen.
Tipp: Nie die Hand zwischen eine sich schliessende Zugtüre halten – sondern nur den Türknopf drücken.