Solange man sie nicht braucht, kontrolliert niemand die Haltbarkeitsdaten seiner Medikamente. So kommt es, dass in vielen Haushalten abgelaufene Arzneien in der Schublade liegen.
Apotheken raten davon ab, solche Mittel noch zu verwenden. So etwa die Versandapotheke «Zur Rose» zurzeit auf ihrer Website: «Nehmen Sie keine abgelaufenen Medikamente ein, da diese ihre Wirkung verändern und Nebenwirkungen entstehen können.» Und die Arzneimittelbehörde Swissmedic sagt dem K-Tipp: «Abgelaufene Medikamente dürfen nicht mehr verwendet werden.» Das sei internationaler Standard. Tonnen von Medikamenten landen deshalb im Müll.
Allerdings: Die Pharmaindustrie legt die Haltbarkeitsdauer von Medikamenten selbst fest. Diese beträgt meist ein bis fünf Jahre. Mehrere wissenschaftliche Studien belegen aber, dass Medikamente oft weit über das Haltbarkeitsdatum hinaus wirksam sind, sofern sie korrekt gelagert wurden.
Das Institut für Pharmazie in Würzburg (D) hat solche Untersuchungen ausgewertet. Einige der geprüften abgelaufenen Medikamente waren über 70 Jahre alt. Fazit: Die Mehrzahl der Arzneimittel wirke noch sehr gut – mitunter sogar zu fast 100 Prozent.
Beispiele: Der Wirkstoff Salbutamol gegen Asthma war rund 20 Jahre nach der Herstellung noch makellos erhalten. Auch der Wirkstoff Montelukast gegen Heuschnupfen war mehr als 15 Jahre haltbar. Das Schmerzmittel Naproxen und das Antibiotikum Ciprofloxacin waren mehr als vier Jahre länger wirksam, als von der Pharmaindustrie angegeben.
Diese Punkte gilt es zu beachten
«Gesundheitstipp»-Ärztin Martina Frei beschäftigt sich oft mit dem Thema. Sie rät, bei abgelaufenen Medikamenten Folgendes zu beachten:
- Abgelaufene, noch originalverpackte Medikamente schaden in der Regel nicht, sind aber unter Umständen nicht mehr wirksam.
- Die meisten Schmerzmittel mit dem Wirkstoff Paracetamol, wie zum Beispiel Dafalgan, sind über das Verfallsdatum hinaus haltbar, Aspirin dagegen baut seine Wirkung vergleichsweise rasch ab.
- Bei abgelaufenen Epipen-Spritzen gegen allergische Schocks lässt der Wirkstoff mit der Zeit zwar nach. Doch im Notfall ist es besser, die abgelaufene Adrenalin-Spritze zu benutzen als gar keine.
- Vorsicht ist geboten bei Medikamenten mit verzögerter Freisetzung des Wirkstoffs, den sogenannten Retardpräparaten: Es ist möglich, dass der Wirkstoff sehr rasch statt verzögert abgegeben wird und es so zu einer Überdosis kommt.
- Bei alten Sprays kann der Sprühstoss zu schwach sein. Dann ist die Dosis zu niedrig.
- Trübe gewordene oder in der Farbe veränderte Medikamente sollte man nicht einnehmen.
- Bei lebenswichtigen Medikamenten wie Antibiotika gilt es, die Haltbarkeit sicherheitshalber zu beachten. Das gilt auch bei Augenmedikamenten und Wirkstoffen zum Spritzen.
- Wichtig: Medikamente müssen richtig gelagert werden, denn Feuchtigkeit, Licht, Kälte und Hitze können Wirkstoffe zerstören.
USA testen seit 1986 reale Haltbarkeit
Die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA überprüft die Haltbarkeit von Medikamenten seit 1986 mit Analysen. Sofern keine gesundheitlichen Risiken bestehen, erstreckt sie bei wichtigen Mitteln die Fristen, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Bis heute verlängerte die FDA die Haltbarkeit von rund 300 Medikamenten um ein bis zwölf Jahre – darunter auch jene von Antibiotika und Schmerzmitteln.
Professorin Ulrike Holzgrabe vom Institut für Pharmazie in Würzburg fordert, auch europäische Behörden sowie die Hersteller gesetzlich in die Pflicht zu nehmen: Sie sollten Medikamente über längere Zeit regelmässig testen und das Verfallsdatum der realen Haltbarkeit anpassen. Die Ausweitung der Haltbarkeit sei besonders bei Medikamentenmangel sinnvoll.
In der Schweiz sind diverse Antibiotika und Schmerzmittel zurzeit Mangelware: Bei Morphin etwa zapfen die Bundesbehörden bereits seit März 2022 die Pflichtlager an. Nach Angaben des Spitalapothekers Enea Martinelli waren Anfang Mai rund 1000 Arzneimittel nicht oder nur beschränkt lieferbar – darunter 150 lebenswichtige Medikamente.
Dennoch hält das Bundesamt für Gesundheit nichts von der Idee, die Haltbarkeit von Medikamenten zu verlängern. Zur Begründung behauptete das Bundesamt in einem Bericht vom vergangenen Jahr, die Konsumenten würden längere Laufzeiten nicht goutieren.