Sie formulieren hehre Ziele: Die Fair-Food-Initiative der Grünen bezweckt ein grösseres Angebot an Lebensmitteln, «die von guter Qualität und sicher sind und die umwelt- und ressourcenschonend, tierfreundlich und unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt werden». Die Initiative für Ernährungssouveränität wiederum fordert «eine einheimische bäuerliche Landwirtschaft, die einträglich und vielfältig ist, gesunde Lebensmittel produziert und den gesellschaftlichen und ökologischen Erwartungen der Bevölkerung gerecht wird». Hinter ihr stehen die Bauerngewerkschaft Uniterre und diverse vorab kleinbäuerliche und linke Organisationen.
Beide Agrarinitiativen kommen am 23. September zur Abstimmung. Bundesrat und Parlament empfehlen sie zur Ablehnung. Doch in der ersten SRG-Umfrage stiessen sie auf geradezu überwältigende Zustimmung: Bei der Fair-Food-Initiative gaben 78 Prozent, bei der Initiative für Ernährungssouveränität 75 Prozent der rund 1200 Befragten an, sicher oder eher Ja zu stimmen.
Diese erste Erhebung fand allerdings in den Sommerferien statt. Zu diesem Zeitpunkt dürften sich die wenigsten Stimmberechtigten bereits vertieft mit den Vorlagen befasst haben. Es überrascht aber nicht, dass beide Initiativen viel Sympathie ernteten. Denn die Qualität der Lebensmittel leidet unter den Produktionsmethoden in der Landwirtschaft. Allein im ersten Halbjahr 2018 berichteten der K-Tipp und «Saldo» rund 20 Mal über entsprechende Missstände:
Sie zeigten mit ihren Tests, dass Lebensmittel oft gesundheitlich problematische Stoffe enthalten. Beispiele: «Bis zu 15 Giftstoffe im frischen Gemüse» (K-Tipp 12/2018), «Pestizide in 19 von 20 Beutel-Salaten» (K-Tipp 11/2018), in Frühlingsrollen (K-Tipp 8/2018), in importierten Beeren («Saldo» 12/2018) und in getrockneten Tomaten («Saldo» 2/2018) sowie Acrylamid und Nitrat in Gemüsechips («Saldo» 10/2018).
Die Zeitschriften schrieben über Zellulose in Fertig-Reibkäse (K-Tipp 10/2018), Phosphatzusätze in diversen Nahrungsmitteln (K-Tipp 7/2018), Arsen in Reisprodukten («Saldo» 7/2018) und Mineralölrückstände in Nuss-Nougat-Cremes («Saldo» 6/2018).
Sie informierten, dass in der Schweiz pro Jahr noch immer über zwei Millionen männliche Küken vergast werden (K-Tipp 6/2018). Sie kritisierten problematische Pestizid-Sprühflüge über Walliser Rebberge und Obstanlagen («Saldo» 2/2018). Und sie recherchierten zu überhöhten Viehbeständen und fragwürdigen Gülle-Exporten («Saldo» 3/2018).
Die Liste ist nicht vollständig. Und sie dürfte im zweiten Halbjahr weiter anwachsen. Konsumentinnen und Konsumenten wünschen sich gesunde Lebensmittel. Die beiden Agrar-Initiativen treffen also zweifellos einen Missstand. Nur: Sie schlagen Verfassungsartikel vor, die notgedrungen ziemlich unverbindlich formuliert sind.
Der Spielraum der Behörden wäre gross
Trotzdem sieht der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse schon schwarz: Er prophezeit massiv steigende Preise – wegen strengerer Produktions- und Verarbeitungsvorschriften. Die Initianten widersprechen: Man verlange ja nicht den Bio-Standard für alle Lebensmittel. Und wenn sich das Angebot an fair, tier- und umweltfreundlich erzeugten Agrarprodukten vergrössere, würden diese günstiger.
Tatsache ist: Heute kann niemand wissen, was sich bei einer Annahme der Initiativen genau ändern würde. Denn umgesetzt würden die Vorlagen von Bundesrat und Parlament. Diese müssten die Gesetze und Verordnungen erlassen, welche den Minimalstandard von Schweizer Lebensmitteln festhalten. Und in beiden Gremien haben die Bauern bekanntlich einen grossen Einfluss.
Der Spielraum der Behörden wäre gross. Zwei Beispiele: Die Fair-Food-Initiative zielt auf eine umwelt- und tierfreundliche Lebensmittelherstellung unter fairen Arbeitsbedingungen. Sie überlässt es aber explizit dem Bund, «die Anforderungen an die Produktion und die Verarbeitung» zu definieren. Die Initiative für Ernährungssouveränität verlangt «in allen Produktionszweigen und -ketten gerechte Preise». Sie sagt aber nicht, wie diese bestimmt werden sollen.
Fair-Food-Initiative
Die Fair-Food-Initiative will unter anderem, dass Bundesrat und Parlament das Angebot an fair, umwelt- und tierfreundlich produzierten Lebensmitteln stärken, die Anforderungen an die Produktion und die Verarbeitung festlegen und auch importierte Landwirtschaftsprodukte diesen Anforderungen unterstellen,gegen die Lebensmittelverschwendung und die negativen Auswirkungen von Transport und Lagerung auf Umwelt und Klima vorgehen, die Verarbeitung und Vermarktung regional und saisonal produzierter Lebensmittel fördern sowie Zulassungs- und Deklarationsvorschriften erlassen.
Die Initiative für Ernährungssouveränität will unter anderem, dass Bundesrat und Parlament mittels «wirksamer Massnahmen» die Zahl der Bauern und Bäuerinnen in der Schweiz vergrössern und für den umfangmässigen und qualitativen Erhalt der Kulturflächen sorgen, auf eine Versorgung mit überwiegend einheimischen, ressourcenschonend produzierten Lebens- und Futtermitteln achten und ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitsbedingungen der im Agrarsektor Angestellten richten, für die Schweizer Landwirtschaft ein Gentechverbot erlassen und sie mit Importzöllen schützen.