Die Invalidenversicherung (IV) und die Unfallversicherungen liessen jahrelang Versicherte ausspionieren – ohne gesetzliche Grundlage. Zu diesem Schluss kamen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und anschliessend das Bundesgericht im Oktober 2016 und im Juli 2017. Sie setzten damit der jahrelangen Bespitzelungspraxis ein abruptes Ende.
Dem versicherungsfreundlichen Parlament passte das gar nicht. Im Schnellzugstempo bastelte es ein Gesetz, das verdeckte Observationen wieder ermöglichen will – und zwar nicht nur durch die IV und die Unfallversicherungen, sondern auch durch Krankenkassen, AHV und die Arbeitslosenversicherung.
Die Mehrheit des Parlaments stimmte dem Gesetz im Frühling zu. Nur SP und Grüne sagten Nein. Am 25. November kann dank einem Referendum nun noch das Stimmvolk über das Gesetz entscheiden. Die nötigen 50 000 Unterschriften waren in nur zwei Monaten gesammelt.
Die Vorlage enthält etliche unpräzise Bestimmungen. Kritiker nennen sie gar «schludrig». So ist unklar, ob Versicherte in Wohnräumen beobachtet werden dürfen, sofern diese «von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar» sind. Und zwar ohne richterliche Genehmigung. Umstritten ist auch, ob Bild- und Tonaufnahmen mit Drohnen erlaubt sind.
Der Basler Rechtsprofessor Kurt Pärli spricht Klartext: «Wenn sich der Gesetzgeber entscheidet, dass Sozialversicherungen durch Überwachung in die Privatsphäre der Versicherten eingreifen dürfen, bedarf es dafür eines sorgfältigen Gesetzes, das unmissverständlich Voraussetzungen, Modalitäten und Schranken der Überwachung definiert.» Das geplante Gesetz erfülle diese Anforderungen nicht. Für Pärli wären etwa Überwachungen «in jedem Fall zwingend durch ein Gericht anzuordnen». Der Grund: «Die Versicherung ist Partei – nur ein Gericht gewährleistet eine objektive Prüfung, ob die Überwachung erforderlich ist.»
Observation kostet bis zu 30 000 Franken
Gratis sind Observationen nicht: Die IV beziffert die Ausgaben für 2016 und 2017 auf je rund 1,3 Millionen, die Suva für 2009 bis 2016 auf total 2,4 Millionen Franken. Nach Angaben der Überwachungsbranche ist pro Observation mit durchschnittlich rund 10 000 Franken Aufwand zu rechnen. Die Suva macht aber klar: «Eine Observation kann bis zu 30 000 Franken kosten.»
Gewiss: Den Kosten stehen mögliche Einsparungen gegenüber. Bei IV und Suva spricht man von je rund 2 Millionen Franken pro Jahr. Trotzdem stellt sich die Frage: Braucht es Spione, um Versicherungsmissbrauch zu verfolgen? Genügen Polizei und Justiz hier nicht – wie in allen anderen Fällen, in denen ein Verdacht für ein Delikt besteht? Der Zürcher Rechtsanwalt Philip Stolkin, Mitglied des Referendumskomitees, sagt: «Versicherungsmissbrauch ist ein Straftatbestand. Da gehören die Polizei und die Staatsanwaltschaft hin, nicht irgendwelche Hilfssheriffs der Versicherung.»
Tatsächlich ist nach Strafgesetzbuch nicht nur Versicherungsbetrug strafbar. Seit zwei Jahren wird auch mit Freiheits- oder Geldstrafe bestraft, wer unrechtmässig Leistungen einer Sozialversicherung bezieht, weil er etwa ein Formular falsch oder unvollständig ausgefüllt hat. Es ist somit Aufgabe von Polizei und Justiz, Missbrauch zu bekämpfen. Die Versicherungen müssten das System nur nutzen. Sie könnten so die Millionen sparen, die sie für Detektive ausgeben. Und die aus den Prämien der Versicherten bezahlt werden.
Versicherungen sagen nicht, wie sie den Abstimmungskampf finanzieren
Rund 300 000 Spendenfranken stehen dem Referendumskomitee nach eigenen Angaben aktuell für seine Kampagne gegen die Sozialversicherungsspione zur Verfügung. Das Ziel seien 400 000 Franken, sagt Sprecher Dimitri Rougy. Die grösste Einzelspende betrug bislang 5000 Franken.
Das Komitee für die Versicherungsspitzel beziffert sein Budget auf Anfrage nur vage auf «mehrere Hunderttausend Franken». Von welchen Parteien, Institutionen und Verbänden das Geld stammt, bleibt geheim. Sprecher Michaël Girod sagt, «dass staatliche oder halbstaatliche Organisationen nicht zu den Spendern gehören».
Suva und IV sagen, sie würden sich weder finanziell noch mit anderen Leistungen am Abstimmungskampf beteiligen. Keine Angaben zu Spenden und Kampagnenbudgets machen der Schweizerische Versicherungsverband und die FDP. Im Verband sind Privatversicherungen wie Axa, Zurich und Generali Mitglied, die wie die Suva mit der obligatorischen Unfallversicherung Gewinne machen.
Die SVP gibt an, für die Pro-Kampagne «nicht gross Geld», aber ihre Kommunikationskanäle zur Verfügung zu stellen. Die CVP dagegen – sie koordiniert das politische Pro-Komitee – führt «eine kleine eigene Kampagne» im Umfang von «einigen Zehntausend Franken» durch. (br/gs)