Achtung, Sturzgefahr!
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Viele Motorradfahrer stürzen jedes Jahr wegen Silikon auf neuen Pneus. Die Verkäufer weigern sich, für den Schaden aufzukommen.
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K-Tipp 13/2003
20.08.2003
Markus Kellenberger - mkellenberger@ktipp.ch
Die Fahrt von der Werkstatt nach Hause war kurz und schmerzhaft: Nach wenigen Kilometern lag Martin Bänziger aus Dachsen ZH mit seiner 1000er-Suzuki am Boden. Die Schulter geprellt, am Töff ein Schaden von fast 4000 Franken und auch das Kombi zerrissen.
Grund für den Sturz: der eben montierte neue Pneu am Hinterrad. Er rutschte in einer Kurve einfach weg. Wohlverstanden: Bänziger ist weder Anfänger noch Raser. Er braucht seinen Töff für den Arbeitsweg und legt jährlich fas...
Die Fahrt von der Werkstatt nach Hause war kurz und schmerzhaft: Nach wenigen Kilometern lag Martin Bänziger aus Dachsen ZH mit seiner 1000er-Suzuki am Boden. Die Schulter geprellt, am Töff ein Schaden von fast 4000 Franken und auch das Kombi zerrissen.
Grund für den Sturz: der eben montierte neue Pneu am Hinterrad. Er rutschte in einer Kurve einfach weg. Wohlverstanden: Bänziger ist weder Anfänger noch Raser. Er braucht seinen Töff für den Arbeitsweg und legt jährlich fast 20 000 km zurück. Zudem weiss er, dass neue Pneus eingefahren werden müssen, und war entsprechend vorsichtig und langsam unterwegs. «Genützt hat es nichts», sagt er.
Neue Pneus sind produktionsbedingt mit einer Silikonschicht umgeben, die den Reifen bei längerer Lagerdauer vor dem Austrocknen bewahrt. Und - obschon das Silikon mit Schleifpapier oder Lösungsmitteln vor der ersten Fahrt zu einem guten Teil entfernt werden könnte, lassen es auch Mechaniker und Pneuhändler am Reifen.
Das ist gefährlich, denn die Silikonschicht ist glatt wie Seife, und solange sie nicht entfernt oder abgefahren ist, kann der Gummi auf dem Teer nicht richtig greifen (siehe Kasten). Das Risiko tragen die Töffpiloten und so stürzen bisweilen auch Routiniers auf ihrer ersten oder zweiten Fahrt mit neuen Pneus. Jahr für Jahr dürften es nach Schätzungen von Fachleuten einige Dutzend sein. Vom Blechschaden bis zum tödlichen Unfall liegt alles drin.
In der Branche ist man sich einig: «Die Töfffahrer sind selber schuld», sagt stellvertretend für alle Rolf Wildberger, Präsident der Schweizer Motorrad-Importeure. Die Gefährlichkeit neuer Pneus sei «Allgemeinwissen» und deshalb «kein Thema».
Nur wer Kunden gar nicht warnt, haftet
Nicht einmal für den Reifen-Verband der Schweiz (RVS), dessen Mitglieder jährlich rund 200 000 Töff- und Rollerpneus absetzen. «Es gibt keine gesetzlichen Vorschriften, wer die Silikonschicht entfernen muss oder wie neue Pneus einzufahren sind», sagt RVS-Vizepräsident Hans-Rudolf Räber. Eventuell stehe darüber etwas in der Betriebsanleitung des Motorrades, vermutet er.
Für diese large Haltung büssen letztlich Motorradfahrer wie Martin Bänziger. Obschon sein Mechaniker nach dem Unfall den Reifen begutachtet und festgestellt hatte, dass er «aussergewöhnlich schmierig» sei, hatte der Gestürzte für den Schaden selber aufzukommen.
Grund: Die Pneuhersteller ziehen sich aus der Affäre, indem sie auf die Kleber an neuen Reifen verweisen, die zur Vorsicht mahnen. Und die Mechaniker, die diese bei der Montage entfernen, sind ebenfalls unschuldig, da sie ihre Kunden üblicherweise mit einem unverbindlichen «Fahr die ersten paar Kilometer vorsichtig!» warnen. Vergessen sie jedoch selbst diese vage Warnung, haften sie laut Vertragsrecht für einen Sturzschaden.
Der Verweis darauf, dass alle wüssten, wie gefährlich neue Pneus seien und wie sie eingefahren werden müssten, stösst Beat Wyrsch vom TCS sauer auf. «Die Branche macht es sich zu leicht», sagt er. «Sie schiebt die Verantwortung einfach auf die Töfffahrer ab.» Das gehe nur, weil es keine verbindlichen Vorschriften gebe, wie mit neuen Pneus umzugehen sei.
Das meint auch Bruno Siegenthaler vom Schweizer Auto- und Motorradfahrer-Verband SAM. Aus seiner Sicht müsste das Thema Pneu zumindest in der Fahrschule ausführlich behandelt werden. Aber dort passiert das, was «Allgemeinwissen» oft passiert. Fred Eichenberger, Präsident des Fahrlehrerverbandes: «Es geht manchmal vergessen.»
Neue Pneus richtig einfahren
Bevor neue Pneus auf der Strasse richtig greifen, muss die Silikonschicht abgefahren werden. Motorrad- und Rollerprofis empfehlen dieses Vorgehen:
- Neue Pneus mindestens eine Stunde lang oder 50 Kilometer weit einfahren.
- Keine brüsken Kurven-, Brems- oder Beschleunigungsmanöver durchführen.
- Nasse Strassen meiden, nicht über Fussgängerstreifen, Bodenmarkierungen und Dolendeckel fahren.
- Kurven anfangs mit wenig Schräglage (niedriges Tempo) nehmen. Nicht aus der Kurve heraus beschleunigen. Schräglage und Tempo nur langsam steigern.
- Einfahren abkürzen: die Silikonschicht mit einem feinen Schleifpapier abschmirgeln oder mit Aceton abwaschen. Nie Benzin verwenden, da dieses ölige Rückstände hinterlässt. Die ersten Kilometer müssen danach trotzdem vorsichtig gefahren werden.