Der Bundesrat macht im Abstimmungsbüchlein gleich zu Beginn auf Alarmismus: «Die finanzielle Stabilität der AHV ist in Gefahr», steht dort. Und: «Die Einnahmen der AHV reichen in wenigen Jahren nicht mehr aus, um alle Renten zu finanzieren.» Bis ins Jahr 2032 brauche es zusätzliche 18,5 Milliarden Franken, weil die Babyboomergeneration ins Rentenalter komme.
Die «AHV 21», über die am 25. September abgestimmt wird, soll die erwünschten Milliarden bringen. Und zwar vor allem über eine schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre und über eine Steigerung der Mehrwertsteuer. Klar ist, wer bei einem Ja die Zeche zahlt: die Frauen – und die Konsumentinnen und Konsumenten.
Dank dem höheren Frauenrentenalter könnte die AHV in den nächsten zehn Jahren rund 9 Milliarden an Rentenausgaben sparen. Immerhin: Für Frauen der sogenannten Übergangsgeneration – die Jahrgänge 1961 bis 1969 – soll die Erhöhung mit Ausgleichsmassnahmen gemildert werden: mit lebenslangen Rentenzuschlägen (siehe Kasten). Diese Massnahmen und weitere Anpassungen senken den Spareffekt von 9 auf 4,9 Milliarden.
Neben dem Frauenrentenalter wollen Bundesrat und Parlament zugunsten der AHV auch die Mehrwertsteuer erhöhen. Der Normalsatz soll von 7,7 auf 8,1 Prozent steigen (siehe Kasten). Dadurch flössen dem Sozialwerk jedes Jahr nach Schätzungen des Bundes rund 1,2 Milliarden zu.
Renten vieler Frauen würden sinken
Wie verändert «AHV 21» die Höhe von Frauenrenten konkret? Der K-Tipp rechnete nach: So erhält nach heutiger Regelung eine ledige Frau mit Jahrgang 1969, durchschnittlichem Jahreseinkommen von 67 000 Franken und lückenloser Beitragsdauer ab Alter 64 eine AHV-Rente von 25 692 Franken pro Jahr. Stirbt sie mit 88 Jahren, ergibt das eine Rentensumme von total 616 608 Franken.
Mit «AHV 21» erhält die gleiche Frau eine leicht höhere Rente von 25 992 Franken pro Jahr. Denn sie gehört mit Jahrgang 1969 zur Übergangsgeneration, die von einem Zuschlag profitiert – in ihrem Fall beträgt er jährlich 300 Franken. Trotzdem bekommt sie bis zum Tod mit 88 Jahren nur insgesamt 597 816 Franken AHV. Das sind rund 18 800 Franken weniger als nach heutiger Regelung – weil unter «AHV 21» die Rente erst ab Alter 65 und damit ein Jahr weniger fliesst.
Der K-Tipp rechnete weitere 30 Beispielfälle durch – für ledige und verheiratete Frauen aus der Übergangsgeneration und jüngeren Jahrgängen. Resultat: In 18 dieser 30 Fälle erhalten Frauen mit «AHV 21» bis zu ihrem Tod weniger Rentengeld als nach heutiger Regelung – auch Frauen aus der privilegierten Übergangsgeneration.
Befürworter von «AHV 21» verweisen darauf, dass mit der aktuellen Vorlage die Gleichstellung der Geschlechter punkto Pensionsalter erreicht würde. Zudem würden Frauen ohnehin durch die AHV bevorzugt. Tatsächlich wird laut AHV-Statistik «die Summe der AHV-pflichtigen Einkommen zu 66 Prozent von Männern aufgebracht». Andererseits erhalten Männer nur 45 Prozent der Summe aller ausbezahlten Altersrenten. Die durchschnittliche Altersrente einer Frau liegt über derjenigen eines Mannes («Saldo» 1/2020).
Vermögen der AHV so hoch wie nie
Nur: Ist die Verschlechterung der AHV-Leistungen für Frauen nötig? Und ist es unumgänglich, die Konsumenten mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Kasse zu bitten? Tatsache ist: Das Vermögen der AHV ist so hoch wie noch nie. Es hat sich seit 2001 mehr als verdoppelt und betrug Ende 2021 fast 50 Milliarden Franken (siehe Grafik im PDF). Das sind rund 5 Milliarden mehr, als das Bundesamt für Sozialversicherungen noch im Sommer 2019 prognostizierte.
Mit den Vorhersagen des Bundes zur AHV ist es so eine Sache: Sie erwiesen sich in der Vergangenheit fast immer als viel zu düster (K-Tipp 14/2020 und «Saldo» 5/2018). Darum ist auf sie kaum Verlass. Das gilt auch für die Behauptung des Bundes, die Lebenserwartung steige unablässig. Fakt ist: Für 65-Jährige liegt diese aktuell laut Bundesamt für Statistik mit 22,7 Jahren (Frauen) beziehungsweise 19,9 Jahren (Männer) etwa gleich hoch wie 2016. Laut K-Tipp-Recherchen entsprechen diese Zahlen zudem nicht denjenigen der AHV. Diesen zufolge leben die Rentenbezüger im Durchschnitt fast 2 Jahre weniger lang (K-Tipp 15/2018).
Wie erwähnt argumentiert der Bundesrat damit, dass die AHV-Kasse durch die Babyboomergeneration zusätzlich belastet werde. Das ist zwar nicht falsch – aber unvollständig: Es blendet aus, dass die Zahl der Neurentner ab 2030 sinkt und jene der Beitragszahler steigt. Denn seit 2005 nimmt die Geburtenzahl in der Schweiz stark zu – sie lag letztes Jahr mit 89 400 auf dem höchsten Stand seit 1972. Die AHV darf darum im Lauf der 2030er-Jahre mit sinkenden Ausgaben und steigenden Einnahmen rechnen. Davon liest man im Abstimmungsbüchlein nichts.
Der Gewerkschaftsbund bekämpft «AHV 21» an vorderster Front. Chefökonom Daniel Lampart kritisiert die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer: «Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Haushalte unter dem Krankenkassenprämienschock und der höheren Teuerung leiden, sollen sie auch noch bei der Mehrwertsteuer zur Kasse gebeten werden. Das ist unhaltbar.» Höhere Mehrwertsteuern treffen insbesondere Haushalte mit tiefen Einkommen hart.
Darum geht es bei der Abstimmung «AHV 21»
- Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre, und zwar ab dem Jahr 2025 in vier Schritten um jeweils drei Monate pro Jahr. Das bedeutet: Frauen mit Jahrgang 1961 erreichen das Pensionsalter nach 64 Jahren und 3 Monaten, mit Jahrgang 1962 nach 64,5 Jahren, mit Jahrgang 1963 nach 64 Jahren und 9 Monaten, mit Jahrgang 1964 und später nach 65 Jahren.
- Frauen der Jahrgänge 1961 bis 1969 erhalten Rentenzuschläge, je nach Jahrgang und durchschnittlichem Jahreseinkommen zwischen Fr. 12.50 und Fr. 160.– pro Monat. Bei Frühpensionierten dieser Jahrgänge werden die Renten weniger gekürzt.
Neu für Frauen und Männer:
- Sie können die Rente zwischen 63 und 70 Jahren ab jedem beliebigen Monat beziehen (Frauen der Übergangsgeneration bereits ab 62 Jahren).
- Sie können neu die Rente auch nur teilweise im Voraus beziehen oder aufschieben – auch in der Pensionskasse.
- Bei Erwerbstätigkeit über das Alter 65 hinaus können sie mit ihren Einzahlungen Beitragslücken schliessen und die AHV-Rente erhöhen.
- Der Bezug von Freizügigkeitsgeld kann nur noch bis zum Alter 70 aufgeschoben werden, wenn jemand so lange arbeitet. Heute ist dies auch ohne Erwerbstätigkeit möglich und erleichtert das stufenweise Beziehen des Kapitals – was die Steuern reduziert.
- Die Mehrwertsteuer wird erhöht: der Normalsatz von 7,7 auf 8,1 Prozent, der reduzierte Satz, etwa für Nahrungsmittel, von 2,5 auf 2,6 Prozent, der Sondersatz für Hotels von 3,7 auf 3,8 Prozent.
- Die Erhöhung der Mehrwertsteuer macht eine Verfassungsänderung nötig. Dafür braucht es das Volks- und Ständemehr. Für die übrigen Neuerungen genügt das Volksmehr. Darum kommen am 25. September zwei Vorlagen zur Abstimmung. Wird eine davon abgelehnt, bleibt alles wie bisher.