Die Branche nennt es Anrechnungsprinzip. Das ist beschönigend – und kein Laie kann sich darunter etwas vorstellen. Die Gewerkschaftszeitung «Work» hingegen schrieb Klartext: Das Anrechnungsprinzip sei «amtlich bewilligter Diebstahl».
Die Pensionskassen greifen dann zum Anrechnungsprinzip, wenn sie eine sogenannte Nullzinsrunde als Sanierungsmassnahme machen. Wenn sie also das Alterskapital der Versicherten für ein ganzes Jahr lang mit null Prozent verzinsen, weil ihnen angeblich das Geld fehlt, um den Versicherten etwas zu geben. Der ganze bisher angesammelte Sparbatzen der Betroffenen bleibt dann gleich hoch.
Aber wie ist das möglich, wenn doch der Bundesrat jedes Jahr einen Mindestzinssatz für die Pensionskassenguthaben festlegt? In diesem Jahr sind es zum Beispiel 1,5 Prozent. Die Antwort: Exakt das Anrechnungsprinzip machts möglich!
Das geht so: Bei sehr vielen Versicherten setzt sich das Altersguthaben aus zwei Komponenten zusammen. Der obligatorische Teil entspricht den gesetzlichen Vorgaben. Dazu kommt noch ein überobligatorischer Teil, wenn die Betroffenen höhere Sparbeiträge einzahlen als vom Gesetz vorgesehen. Die Pensionskassen betrachten beide Teile als eine einzige Summe.
Schattenrechnung der Pensionskassen
Anrechnung heisst nun: Bei eines Nullzinsrunde wird der obligatorische Teil zwar theoretisch – in einer Art Schattenrechnung – wie vom Gesetz vorgeschrieben verzinst. Das Total des Altersguthabens bleibt aber gleich hoch, weil dieser vorgeschriebene Zinszuwachs vom überobligatorischen Teil abgezwackt wird. Für den überobligatorischen Teil ergibt sich somit ein Negativzins – was «Work» als Diebstahl bezeichnet.
Beispiel: Betragen der obligatorische und der überobligatorische Teil je 100 000 Franken (total also 200 000 Franken), so wächst der obligatorische Teil mit dem vorgeschrieben Zinssatz von 1,5 Prozent auf 101 500 Franken. Der überobligatorische Teil sinkt hingegen auf 98 500 Franken. Insgesamt verharrt das Alterskapital bei den 200 000 Franken. Die überobligatorisch Versicherten zahlen also den gesetzlich festgelegten Zins aus dem eigenen Sack, bzw. er wird ihnen weggenommen.
Gemäss dem zuständigen Bundesamt für Sozialversicherungen ist dieses Vorgehen zulässig. Auch Entscheide des Bundesgerichts stützen es nach Meinung der Branche. Begründung: Die Anforderungen des Gesetzes seien ja beim obligatorischen Teil erfüllt, und für den überobligatorischen Teil gebe es keine Vorschriften.
Tatsächlich gibt es für den überobligatorischen Teil keine Zinsvorschriften. Hier können die Pensionskassen also in Eigenregie machen, was sie wollen. Strittig ist bloss, ob sie eine Nullrunde nur dann ergreifen können, wenn der Deckungsgrad unter 100 Prozent liegt, wenn also effektiv zu wenig Geld in der Kasse ist, um sämtliche Ansprüche der Versicherten zu decken. Oder ob sie auch rein präventiv zur Nullzinsrunde greifen dürfen, um eine drohende Unterdeckung zu verhindern.
Klar ist: Die Pensionskassen brauchen eine reglementarische Basis dafür und müssen die Betroffenen informieren. In einer Weisung des Bundesrates vom Mai 2003 steht: «Eine Minder- oder Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip ist nur zulässig, sofern sie im Reglement vorgesehen ist und die Informationspflichten gegenüber den Versicherten eingehalten sind.»
Hier hapert es gewaltig. Das zeigt das Beispiel des 64-jährigen Fredi Zbinden. Er wohnt im Raum Solothurn und ist bei der Pensionskasse Vogt-Schild versichert. Als er kürzlich seine jährlichen Pensionskassenausweise studierte, stellte er fest, dass sein Altersguthaben im Jahr 2009 überhaupt nicht grösser geworden war – bzw. nur um die effektiv eingezahlten Altersbeiträge. Erst auf Nachfrage erklärte man ihm, es habe eine Nullzins-Runde stattgefunden.
Zbinden und etliche seiner Kollegen betonen: «Darüber wurden wir nicht informiert. Wir wussten nicht einmal, dass so etwas überhaupt möglich ist.» Die Pensionskasse Vogt-Schild bestreitet das. Das entsprechende Schreiben an die Versicherten wollte die Pensionskasse dem K-Tipp allerdings nicht zeigen.
Sicher ist aber: Eine reglementarische Basis für dieses Vorgehen ist bei Vogt-Schild mit dem besten Willen nicht zu finden. Im Reglement steht dazu einzig: «Der Zinssatz wird vom Stiftungsrat festgelegt.» Von einer Selbstbedienung im überobligatorischen Bereich mittels Nullzinsrunde ist nicht die Rede. Selbst das unverfängliche Wort «Anrechnungsprinzip» fehlt.
Aufsichtskommission verspricht Klärung
Der K-Tipp wollte deshalb von der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge wissen: Was genau muss im Reglement stehen, damit die Pensionskassen eine Nullzinsrunde mit Entnahme aus dem Überobligatorium durchführen können? Die Antwort: «Es wurden von verschiedener Seite Fragen zur Thematik der Null- und Minderverzinsung an unsere Behörde herangetragen, die einer Klärung bedürfen. Die Kommission wird deshalb in den nächsten Wochen zu diesem Themenkomplex eine Mitteilung publizieren.»
Wie auch immer die konkrete Antwort auf die Frage lauten wird: Die Branche scheint zurzeit nicht gewillt, den Versicherten reinen Wein einzuschenken. Dass im Reglement nur allgemein von einem Zinssatz die Rede ist, ist üblich – allenfalls noch ergänzt mit dem Zusatz, der Satz werde festgelegt «unter Berücksichtigung der Performance und der notwendigen Rückstellungen».
Auch Erich Peter, Chef der beruflichen Aufsicht im Kanton Zürich, fordert von den Pensionskassen keine präziseren Bestimmungen: «Eine reglementarische Grundlage, aufgrund welcher der Stiftungsrat am Ende des Jahres die Verzinsung gemäss Performance festlegt, ist genügend für das Festlegen einer Null-/Minderverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip.»
Fazit des betroffenen Fredi Zbinden: «Mir geht es nicht darum, meine Pensionskasse in Misskredit zu bringen. Aber meine Rente wird durch diesen Schritt deutlich kleiner. Ab einem gewissen Alter der Versicherten sollten solche Nullzinsrunden verboten sein.»
Ungleichbehandlung mit System
Eine wichtige Grundregel für die Pensionskassen ist die Gleichbehandlung der Versicherten. Bei der Nullzinsrunde wird dieses Prinzip verletzt.
Beim Rechnungsbeispiel im Haupttext betragen der obligatorische und der überobligatorische Teil je 100 000 Franken. Damit ist das Verhältnis der beiden Summen ausgewogen. Bei einer Nullzinsrunde ergibt sich so mit dem zurzeit gesetzlich festgelegten Mindestzins von 1,5 Prozent eine Minusverzinsung des Überobligatoriums von ebenfalls 1,5 Prozent.
Doch das Verhältnis der beiden Summen ist bei jedem einzelnen Versicherten anders. Daraus ergibt sich bei einer Nullzinsrunde eine Ungleichbehandlung, wie folgendes Beispiel zeigt: Beträgt der obligatorische Teil 150 000 und der überobligatorische Teil nur 50 000 Franken, so wächst der obligatorische Teil mit dem vorgeschrieben Zinssatz von 1,5 Prozent um 2250 Franken. Beim kleineren überobligatorischen Teil ergibt das dann jedoch wegen der «Anrechnung» eine Minusverzinsung von 4,5 Prozent. Ist das Verhältnis hingegen genau umgekehrt (obligatorisch 50 000 und überobligatorisch 150 000 Franken), so wird beim Überobligatorium nur 1 Prozent (750 Franken) abgezwackt.