Jahr für Jahr legt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) in seinem Aufsichtsbericht offen, wie viele Störfälle sich in den fünf Schweizer Atomkraftwerken ereignet haben. Der Blick zurück zeigt: Es sind nicht wenige. Für die zehn Jahre von 2009 bis 2018 verzeichnet das Ensi total 319 «meldepflichtige Vorkommnisse» (siehe Grafik im PDF). Das sind fast drei Mal so viele wie in den zehn Jahren zuvor. Bei diesen Vorkommnissen handelte es sich häufig um Defekte an Material, Geräten und Ausrüstung, wie beschädigte Brennstab-Hüllrohre, blockierte Ventile, Risse in Schweissnähten und kaputte Löschanlagen. Verzeichnet sind aber auch Betriebsprobleme. So waren etwa im AKW Leibstadt im April 2018 Teile des Notstand- und des Kernnotkühlsystems nicht oder nur eingeschränkt betriebsbereit. Solche Mängel und Defekte gefährden den reibungslosen Betrieb der AKWs und den Schutz der Bevölkerung in Notfällen.
Durchschnittsalter: Fast 44 Jahre
Der drastische Anstieg an verzeichneten Störfällen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass auf Anfang 2009 strengere Vorschriften zu Meldepflicht und Information in Kraft traten. Aber das ist nicht der einzige Grund. Die Zunahme an Störfällen zeigt auch auf: Die Schweizer AKWs sind alt. Aktuell liegt ihr Durchschnittsalter bei fast 44 Jahren. Die Schweiz hat damit den ältesten AKW-Park der Welt. Beznau 1 ging 1969 in Betrieb und ist somit 50-jährig. 1971 folgte Beznau 2, 1972 Mühleberg, 1979 Gösgen und 1984 Leibstadt.
Swissnuclear, der Branchenverband der AKW-Betreiber, behauptet zwar, die Schweizer Kraftwerke erreichten «durch sorgfältige Nachrüstungen nahezu das Sicherheitsniveau von neuen Anlagen». Doch Kritiker sind überzeugt: Die «Altersschwäche» lässt sich auch mit Nachrüstungen nicht wettmachen. Das gehe «ebenso wenig, wie ein Telefon aus den 1960er-Jahren zu einem Smartphone umgebaut werden kann», brachte es die Grüne Partei kürzlich im Streit um den Weiterbetrieb des Reaktors Beznau 1 auf den Punkt. Er wurde ab Mitte März 2015 drei Jahre lang stillgelegt – wegen Materialfehlern in der Stahlwand des Reaktordruckbehälters.
Keine fixe Laufzeitbegrenzung
Wann Schluss ist, weiss man erst von Mühleberg: Der Energiekonzern BKW nimmt dieses Kraftwerk am 20. Dezember ausser Betrieb, weil es nicht mehr rentiert. Das Ablaufdatum der anderen Meiler ist offen. In der Schweiz gibt es keine fixe Laufzeitbegrenzung für AKWs: Sie dürfen so lange laufen, wie sie die gesetzlichen Sicherheitsauflagen erfüllen. Ob sie das tun, überwacht die Aufsichtsbehörde Ensi. Noch Ende 2014 sagte die damalige Energieministerin Doris Leuthard, der Bundesrat rechne mit einer AKW-Laufzeit von 50 Jahren. Inzwischen hält man beim Bundesamt für Energie auch 60 Jahre für möglich.
Da dürften der Schweiz noch einige AKW-Störfälle bevorstehen – darunter auch Schnellabschaltungen von Reaktoren: Ihre Zahl belief sich in den letzten 20 Jahren auf 40 und damit im Durchschnitt auf zwei pro Jahr. Auch im laufenden Jahr kam es bereits wieder zu zwei Schnellabschaltungen, beide Male in Leibstadt.
Die Zwischenfälle hatten ganz unterschiedliche Ursachen: defekte Wasserpumpen, Störungen im Turbinen- oder im Abgassystem, Radioaktivitätsanstieg in Dampfleitungen und anderes mehr (die vollständige Liste unter www.ktipp.ch). Ihnen allen ist gemein: Sie schmälern das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit der AKWs.
Die AKWs sorgen denn auch für entsprechende Schlagzeilen: So berichtete die «Aargauer Zeitung» im April über das noch immer fehlende zusätzliche Kühlsystem für das Brennelemente-Lagerbecken im AKW Beznau. Das Ensi hatte die Betreiberin Axpo 2011 beauftragt, dieses System einzubauen. Passiert ist das bis heute nicht.
Trotz Störfällen vielfältigster Art wird das Ensi nicht müde zu betonen, die Kernkraftwerke würden sicher betrieben. Das sorgt bei AKW-Kritikern für Kopfschütteln: «Das Ensi korrigiert mit Rückendeckung des Bundesrats das Sicherheitsniveau laufend nach unten», sagt der frühere SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner, Vizepräsident des Trinationalen Atomschutzverbands in Basel.
Rechsteiner verweist unter anderem auf die revidierte, seit Februar dieses Jahres geltende Kernenergieverordnung. Darin sei der Bundesrat «ohne Rücksicht auf Proteste von Experten und Kantonen» dem Ensi gefolgt: Er habe die zulässige radioaktive Maximaldosis bei Erdbeben, wie sie alle 10 000 Jahre zu erwarten sind, von 1 auf 100 Millisievert erhöht. Der Grund: «Beznau hätte sonst sofort abgestellt und nachgerüstet oder stillgelegt werden müssen.»
«Wir steuern auf einen Unfall zu»
Das Ensi widerspricht: Die vom Bundesrat erlassene Regelung stimme mit der langjährigen Praxis des Ensi überein. Inhaltlich seien die Vorgaben der revidierten Verordnung unverändert. Nur den Wortlaut habe man, «da er offenbar nicht hinreichend klar war, präziser gefasst».
Für Rechsteiner ist das arg beschönigend. Entscheidend sei doch, dass Beznau die geltenden Normen nicht erfüllt und der Bundesrat deshalb die Grenzwerte massiv verwässert habe, um die Anlage weiterlaufen zu lassen. «Die Atomaufsicht wird zur reinen Farce, wenn das Ensi und der Bundesrat der Axpo jeden Wunsch erfüllen, statt die Anlage ordnungsgemäss zu schliessen», warnt er – und fügt mit Blick auf die vielen Vorfälle der letzten Jahre an: «Wir steuern auf einen Unfall und nicht auf einen geordneten Ausstieg zu.»