Auf Anfang Jahr hätten sämtliche Anzeigetafeln und Billettautomaten im öffentlichen Verkehr behindertengerecht gestaltet sein müssen. Dies verlangt das Behindertengleichstellungsgesetz. Doch viele Betriebe haben die Frist offenbar verschlafen. Urs Dettling, Mitglied der Geschäftsleitung von Pro Infirmis, sagt: «Ein Teil der Unternehmen hat es nicht geschafft, die Anforderungen des Gesetzes fristgerecht zu erfüllen.»
Beispiel SBB: Die elektronischen Anzeigetafeln sind noch nicht sehbehindertengerecht. Will heissen: Die Schriftgrösse ist zu klein. Die SBB versprechen die Umsetzung bis spätestens Juni.
Akustische Ansagen erst in zwei Jahren
Der Berner Tram- und Busbetrieb «Bernmobil» ist ebenfalls im Verzug: Die Fahrgäste werden nur auf Anzeigetafeln informiert, wann der nächste Bus oder das nächste Tram kommt. Das Gesetz verlangt aber akustische Fahrplan-Ansagen. Auch «Bernmobil»-Sprecher Rolf Meyer verspricht Abhilfe: «Es läuft zurzeit ein Beschaffungsprojekt für eine Sprachausgabe der Anzeige.» Allerdings sei mit der entsprechenden Ausrüstung der Haltestellen erst in etwa zwei Jahren zu rechnen.
Auch beim Bau von Haltestellen eilt es «Bernmobil» nicht mit der Rücksichtnahme auf Behinderte – man verschleudert mit verspäteten Nachbesserungen unnötig Geld. «Bernmobil» bestätigt, dass beim Neubau der Tramlinie Bern-West mehrere Haltestellen nicht behindertengerecht gebaut wurden. Und dies, obwohl das Gleichstellungsgesetz beim Bau bereits in Kraft war. Laut Meyer war das Tram Bern-West vorher geplant worden.
Fakt ist aber: Bei der Einreichung des definitiven Baugesuchs beim Bundesamt für Verkehr war der Inhalt des Gesetzes längst bekannt. Dies belegt das öffentlich zugängliche Dossier «Tram Bern-West».
«Bernmobil» kann nicht alleine handeln
Anders als bei den Kommunikationssystemen haben die Verkehrsbetriebe noch bis Ende 2023 Zeit, um Bahnhöfe, Haltestellen und Fahrzeuge behindertengerecht umzubauen. Urs Dettling von Pro Infirmis ist jedoch pessimistisch: «Es wird sehr schwierig sein, bis dahin alle gesetzlichen Vorgaben konsequent umzusetzen.» Auch «Bernmobil»-Sprecher Meyer ist skeptisch: «Ob bis 2023 alle Haltestellen behindertengerecht ausgestaltet sein werden, ist für uns zurzeit nicht abschätzbar.» Meyer verweist dabei auf das Problem, dass «Bernmobil» beim Umbau von Haltestellen nicht autonom handeln könne, sondern auf die Stadt Bern als Grundeigentümerin angewiesen sei.
Störend ist auch: Ob die gesetzlichen Vorschriften eingehalten werden, wird von den Bundesbehörden nicht überprüft. Das Bundesamt für Verkehr fühlt sich nicht zuständig. Sprecher Andreas Windlinger: «Die Umsetzungskontrolle erfolgt durch die Betroffenen selbst. Sie haben laut Gesetz ein Klagerecht.»
Das heisst im Klartext: Die Behinderten und deren Interessensorganisationen müssen die Umsetzung des Gesetzes selber kontrollieren – und sich allenfalls auf gerichtlichem Weg zur Wehr setzen.
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