Bergdörfer: Eltern müssen für jedes Schulbuch zahlen
Inhalt
K-Tipp 16/2002
02.10.2002
Bis 250 Franken pro Schuljahr und Kind müssen Eltern in Bündner Gemeinden für Bücher, Bleistifte und Hefte zahlen. Das ist gegen das Gesetz.
Pirmin Schilliger redaktion@ktipp.ch
Seltsame Blüten treibt der Föderalismus im Schulwesen, wo die Kantone die Verantwortung weitgehend an die Gemeinden delegieren.
Beispiel Sumvitg: In der Bündner Berggemeinde müssen die Eltern sämtliche Schulbücher ihrer Kinder selber berappen. Auch Hefte, Bleistifte ...
Bis 250 Franken pro Schuljahr und Kind müssen Eltern in Bündner Gemeinden für Bücher, Bleistifte und Hefte zahlen. Das ist gegen das Gesetz.
Pirmin Schilliger redaktion@ktipp.ch
Seltsame Blüten treibt der Föderalismus im Schulwesen, wo die Kantone die Verantwortung weitgehend an die Gemeinden delegieren.
Beispiel Sumvitg: In der Bündner Berggemeinde müssen die Eltern sämtliche Schulbücher ihrer Kinder selber berappen. Auch Hefte, Bleistifte und Fotokopien werden ihnen per Ende Jahr in Rechnung gestellt. «In der Annahme, dass dies normal sei, haben wir und andere Eltern bislang anstandslos bezahlt», sagt Manuela Orlik, Mutter von vier Kindern im Alter von zwei bis neun Jahren, von denen die beiden Ältesten die 2. und 3. Primarklasse besuchen.
Wie ungewöhnlich dieses Finanzierungsmodell ist, wurde Manuela Orlik bewusst, als sie kürzlich im K-Tipp las, laut Bundesverfassung sei der Grundschulunterricht unentgeltlich (Ausgabe 13/02). In fast allen Kantonen ist denn auch die Abgabe von Lern- und teilweise auch Verbrauchsmaterial kostenlos. Nur spezielle Auslagen, etwa für Bastelutensilien oder die Lebensmittel in der Kochschule, für Schulreisen und Lager werden den Eltern teilweise oder ganz überwälzt.
Martin Stauffer von der Erziehungsdirektorenkonferenz nimmt «mit Erstaunen» zur Kenntnis, dass in Sumvitg die Eltern für Bücher, Hefte und Bleistifte bezahlen müssen. «Das haben wir nicht gewusst», gibt er zu.
Ob Sumvitg in Graubünden ein Einzelfall sei oder nicht, will Markus Engi, Vorsteher des Amtes für Volksschulen in Chur, nicht verraten. Die in der Bundesverfassung und auch im kantonalen Schulgesetz unter Artikel 5 erwähnte Unentgeltlichkeit werde in Graubünden so verstanden, dass die öffentliche Hand die Kosten für Schulhäuser und Lehrerlöhne, nicht aber für Schulbücher und Verbrauchsmaterialien trage.
«Wir überlassen es den einzelnen Gemeinden, im Detail zu entscheiden, was in der Schule gratis und was kostenpflichtig sein soll», sagt er.
Tatsächlich läuft es, wie die Nachforschungen des K-Tipp ergeben, in mindestens zwei Dutzend Bündner Gemeinden wie in Sumvitg. Und dass diese Praxis nicht rechtskonform sein kann, wird klar, wenn man das kantonale Schulgesetz (Artikel 49) liest. Dort heisst es wörtlich: «Die Trägerschaft (Gemeinde) stellt auf ihre Kosten (...) die allgemeinen und für jeden Schultypus spezifischen lehrplanmässigen Unterrichtsmittel zur Verfügung.»
Der Verfasser des Standardwerks «Schweizerisches Schulrecht» Herbert Plotke empfiehlt den betroffenen Eltern den Rechtsweg, falls die Schulbehörden nicht von ihrer Praxis abweichen.
Otto Beer, Schulratspräsident in Sumvitg, rechnet vor: «Unsere Gemeinde zahlt jährlich 2 Millionen Franken für das Schulwesen, was bereits über dem liegt, was wir an Steuern einnehmen.»
Immerhin 24 000 Franken seien im letzten Jahr für die Finanzierung von Unterrichtsmitteln aufgewendet worden.
«Aber das reicht natürlich nicht, um für alle 220 Schüler sämtliche Bücher, Hefte und Bleistifte zu bezahlen», räumt Beer ein.
Sollten die Behörden kein Einsehen haben, bleibt den Eltern Orlik nichts anderes übrig, als für ihr Recht zu kämpfen. Denn spätestens in vier Jahren, wenn alle ihre vier Kinder in die Schule gehen, werden sich die Kosten für Bücher, Hefte und Bleistifte auf 800 bis 1000 Franken pro Schuljahr summieren - Geld, das sie zum Beispiel in der Nachbargemeinde Disentis nicht zahlen müssten.