Wer Angehörige in einem Pflegeheim hat, wähnt diese rund um die Uhr gut betreut. Die Realität sieht allerdings anders aus, wie die Analyse des K-Tipp von Daten aus 320 Schweizer Pflegeheimen – jedes fünfte im Land – zeigt. Mit den Zahlen lässt sich belegen: Pflegerinnen und Pfleger verbringen mehr als einen Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit im Büro, nämlich 36 Prozent. Das sind für jeden einzelnen der zu betreuenden Heimbewohner 69 Minuten Computerarbeit pro Tag (siehe Grafik im PDF).
Die Auswertung stützt sich auf die Arbeitszeitdaten der vergangenen zehn Jahre. Die Grundlage dazu liefert Curatime, eine Software, die minutiös die Arbeitsschritte von über 23 700 Mitarbeitenden erfasst hat. Seit 2013 haben dazu die erwähnten 320 Heime ihr Personal jedes Jahr zwei Wochen rund um die Uhr mit einem Scanner ausgestattet. Vor und nach jedem Arbeitsschritt muss- ten die Angestellten einen Strichcode scannen. So dokumentierten sie, wie viel Zeit welche Tätigkeit beansprucht hatte. Daraus entstand ein genaues Bild über den Arbeitsalltag.
Kündigungen wegen zu viel Büroarbeit
Die Zunahme an Büroarbeit ist auch für die Angestellten unbefriedigend und führte zu Kündigungen. Martin Lohr leitet zwei Pflegeheime in Freienbach im Kanton Schwyz. Er sagt: «Mein Personal kündigt, weil es entschieden als Pflege- und nicht als Bürofachkraft arbeiten will.»
Bereits im Jahr 2012 hatte der Heimverband Curaviva eine «Zunahme der administrativen Tätigkeiten in Pflegeinstitutionen» angeprangert. Curaviva bestätigt auf Anfrage des K-Tipp: «Der administrative Aufwand nimmt zu. Die Stimmen aus der Praxis sind eindeutig.» Das zuständige Bundesamt für Gesundheit erfuhr erst durch den K-Tipp von den Zahlen.
Thomas Bächinger, Anbieter der Zeiterfassungssoftware Curatime, sieht angesichts des bürokratischen Alltags in Pflegeheimen auch die Behörden und Krankenkassen in der Pflicht: «Pflegeheime müssen ihre Kosten gegenüber den Krankenkassen und der öffentlichen Hand extrem detailliert rechtfertigen.»
«Mehr Personal oder weniger Zeit am Bett»
Immer mehr Bürokratie statt Pflege: Davon weiss auch Naemi Bruderer aus dem Kanton Zürich zu berichten. Sie arbeitet seit 2003 in der Pflege, zu Beginn in einem Akutspital, heute in einem Pflegeheim. Seit 2010 bildet die 36-Jährige Pflegepersonal aus. Bruderer sagt: «Nicht zuletzt wegen Büroarbeiten ist eine hohe Belastung in unserem Beruf an der Tagesordnung.» Sie sei sich bewusst, dass die konkret ausgeführten Abläufe in den Pflegeheimen festgehalten werden müssten. Nur: «Wenn wir in diesem Ausmass dokumentieren müssen, braucht es bedeutend mehr Personal – oder die Zeit am Bett wird weniger.»
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