Das Arztgeheimnis verkommt zur Farce
Der Hunger der Versicherungen nach heiklen Daten höhlt das Arztgeheimnis zunehmend aus. Zum Nachteil der Patienten.
Inhalt
K-Tipp 8/2005
20.04.2005
Bennie Koprio - bkoprio@ktipp.ch
Der Hausarzt schickt eine Patientin mit der Diagnose Schleudertrauma zwecks Therapie zum Spezialisten; doch anstelle eines Behandlungsvorschlags erstellt der Facharzt hinter dem Rücken der Patientin für die Versicherung ein Gutachten, das für die Frau negativ ausfällt.
Ein Beispiel von einer zunehmenden Zahl an Fällen, bei denen Ärzte sensible Informationen über ihre Patienten ohne deren Einwilligung an Dritte weitergeben. Manchmal auch unfreiwillig: So musste ein Psychiate...
Der Hausarzt schickt eine Patientin mit der Diagnose Schleudertrauma zwecks Therapie zum Spezialisten; doch anstelle eines Behandlungsvorschlags erstellt der Facharzt hinter dem Rücken der Patientin für die Versicherung ein Gutachten, das für die Frau negativ ausfällt.
Ein Beispiel von einer zunehmenden Zahl an Fällen, bei denen Ärzte sensible Informationen über ihre Patienten ohne deren Einwilligung an Dritte weitergeben. Manchmal auch unfreiwillig: So musste ein Psychiater nach einem entsprechenden Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts die Krankengeschichten von 75 Patienten an verschiedene Kassen aushändigen, nachdem die Versicherer ihn der «unwirtschaftlichen Behandlung» angeklagt und die Rückzahlung von insgesamt 250 000 Franken verlangt hatten.
Dabei hält das Gesetz klar fest: Ärzte und andere Medizinalpersonen sind abgesehen von wenigen, gesetzlich geregelten Ausnahmen zur Verschwiegenheit verpflichtet; geben sie Informationen über ihre Patienten ohne deren Einwilligung weiter, machen sie sich strafbar. Aber, so der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich, Bruno Baeriswyl: «Die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Patientendaten zeigen immer weniger Wirkung.»
Appetit auf Informationen über ihre Kunden haben allen voran die Krankenkassen, und seit der Einführung des neuen Tarifmodells Tarmed vor einem Jahr stillen sie ihn ungehemmt: Sie verlangen, dass die Ärzte ihnen die detaillierte Krankheitsdiagnose jedes Patienten per Code melden. Mit einer Unzahl von Positionen - von A 4 für Bluthochdruck über D 4 für Arthrose bis M 2 für psychische Erkrankungen - erfahren die Versicherer fast alles über den Gesundheitszustand ihrer Kunden.
Das kann für den Patienten ins Auge gehen. «Es gibt Hinweise, dass die Versicherungen Personen klassifizieren», so Datenschützer Baeriswyl. Mit der Folge, dass etwa ein Patient, der einst Antidepressiva verschrieben bekam, als psychisch krank und damit als riskanter Kunde eingestuft wird. Will er später zum Beispiel zusätzlich versichern, sind Probleme vorprogrammiert.
Die Versicherer begründen ihr Interesse an den Daten damit, dass sie diese Informationen benötigen, um die Rechnungsstellung der Ärzte zu überprüfen. Dem widerspricht Bruno Baeriswyl: «Die Versicherungen brauchen keine derart genauen Angaben, um festzustellen, ob eine Rechnung korrekt ist oder nicht.»
Zudem bezweifeln Experten, ob der Codierungszwang rechtlich abgesichert ist. Das Krankenversicherungsgesetz hält lediglich fest, dass eine Kasse «eine genaue Diagnose oder zusätzliche Auskünfte verlangen kann» - von «müssen» ist hier keine Rede.
Ärzte können die Auskunft verweigern
Diese Formulierung weist nach den Worten von Baeriswyl darauf hin, «dass die Versicherer nur im klar begründeten Einzelfall eine Diagnose verlangen dürfen». Einige Ärzte weigern sich deshalb, die Codes anzugeben. Oder sie verwenden grundsätzlich nur Code 9 für «andere Krankheiten», um zu vermeiden, dass der Krankheitsbefund bekannt wird.
Aber nicht nur die Ärzte, auch die Patienten selbst geraten zunehmend unter Druck, heikle Informationen preiszugeben. Nicht nur beim Abschluss einer Zusatz- oder einer Lebensversicherung, sondern insbesondere auch bei einer Begutachtung, zum Beispiel wenn nach einem Unfall abzuklären ist, ob eine Invalidität vorliegt.
«Es gibt eine starke Tendenz bei den Versicherungen, in solchen Fällen eine Generalvollmacht zu verlangen», so der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich. «Diese gibt ihnen das Recht, auch das letzte Detail über den Patienten zu erfahren.»
Was schliesslich mit den gesammelten Daten innerhalb der Versicherung passiert, ist ungewiss. Es gibt keine Gewähr, dass Informationen nicht zum Nachteil des Patienten ausgewertet werden. Es kann durchaus sein, dass jemandem eine Zusatzversicherung verweigert wird, weil er aufgrund einer Bagatelle als Risikopatient gilt. Nicht einmal beim Vertrauensarzt der Kasse sind sensible Daten sicher aufgehoben. «Ein grosser Teil der Informationen, die an den Vertrauensarzt gerichtet sind, gelangt ungefiltert an die Administration», so Baeriswyl.
Der Datenschutzbeauftragte rät deshalb: «Patienten sollten gegenüber Ärzten und Versicherungen betonen, dass sie Wert legen auf den Schutz ihrer Daten. Gerade Ärzte sind sich oft zu wenig bewusst, dass die Weitergabe sensibler Daten dem Patienten eventuell grossen Schaden zufügen kann.»
So können sich Patienten vor Datenmissbrauch schützen
- Fragen Sie Ihren Arzt, ob er in heiklen Fällen auf der Rechnung den Diagnose-Code weglassen oder den Code 9 «andere Krankheiten» angeben könnte.
- Schicken Sie Rechnungen mit sensiblen Daten grundsätzlich nur an den Vertrauensarzt der Versicherung mit dem Vermerk «persönlich und vertraulich».
- Erteilen Sie - zum Beispiel für eine Begutachtung - keine Generalvollmacht für die Einsicht in Ihre Daten. Schränken Sie die Berechtigung ein auf jene Bereiche, die Ihnen für den speziellen Fall wesentlich erscheinen. Benötigt die Versicherung mehr Angaben, kann sie Ihre Zustimmung für zusätzliche Nachforschungen mit einer entsprechenden Begründung immer noch nachfordern.
- Verlangen Sie schriftlich Einsicht in die Daten, die über Sie gesammelt wurden - bei der Versicherung, beim Hausarzt und eventuell auch in einem Labor. Das kostet grundsätzlich nichts. Ist dies für den Betroffenen mit einem grossen Mehraufwand verbunden, kann er maximal 300 Franken verlangen.
- Ist in Ihrem Dossier etwas klar falsch wie zum Beispiel das Geburtsdatum oder die Verwandtschaftsverhältnisse, können Sie eine Richtigstellung verlangen. Aber: Die Einschätzungen des Arztes können Sie nicht ändern lassen. Sie können hingegen schriftlich Ihre eigene Meinung äussern und verlangen, dass diese ins Dossier aufgenommen wird.
- Bei Gutachten haben Sie das Recht, ein Gegengutachten erstellen zu lassen oder Ihre eigene Meinung zu äussern. Wurde eine Expertise zum Beispiel für eine Zusatzversicherung erstellt und Sie wurden nicht aufgenommen, muss - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die Versicherung das Papier vernichten. Sie können auch verlangen, dass die Versicherung Ihnen das Gutachten aushändigt.