Es kam mir vor, als wäre ich ein Paar alte Schuhe, die man in die Ecke stellt», sagt Gertrud Tobler (Name geändert). Der Versicherungskonzern Swiss Life hatte auf Juni 2019 die Wohnung in Regensdorf ZH gekündigt, in der die 85-Jährige mit ihrem Mann lebte – 61 Jahre lang. Sie hatte dort ihre Kinder aufgezogen, es war ihr Zuhause. Vor Kummer nahm Tobler 10 Kilogramm ab.
Der Versicherungskonzern setzte nebst dem Ehepaar weitere 125 Mieter vor die Tür. Dann liess er die alten Gebäude in Regensdorf abreissen. Auf dem Gelände entstehen nun neue Wohnblöcke – zu wesentlich höheren Mieten. Solche sogenannten Leerkündigungen vor anstehenden Sanierungen haben in vielen Städten zugenommen. In Zürich wurden mehr als doppelt so viele Massenkündigungen ausgesprochen wie vor zehn Jahren.
Die Mietpreise steigen und steigen: Mieter in der Schweiz müssen heute für ihre Wohnungen 11 Prozent mehr zahlen als noch 2008. Dabei hätten die Mieten sinken müssen. Denn der Referenzzinssatz, mit dem die Mietpreise seit 2008 berechnet werden, fiel von 3,5 auf 1,5 Prozent.
«14 Milliarden Franken zahlen Mieterinnen und Mieter laut einer Raiffeisenstudie jedes Jahr zu viel. Dieses Geld wird ihnen unrechtmässig aus der Tasche gezogen», sagt SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, die im Vorstand des Schweizerischen Mieterverbands tätig ist.
Beliebt: Mietobjekte als Geldanlage
Schuld an den steigenden Mieten sind Investoren wie Swiss Life, Pensionskassen, Anlagestiftungen und Immobilienfonds von Banken. Sie kaufen und bauen jedes Jahr Tausende von Mietwohnungen. In Zeiten von Negativzinsen auf Guthaben sind Mietobjekte als Geldanlage besonders begehrt. Die hohe Nachfrage treibt den Preis in die Höhe. Die Investoren sanieren die Wohnungen aufwendig und vermieten sie teurer.
Im Jahr 2000 waren noch 1 090 000 Mietwohnungen im Eigentum von Privatpersonen – 57 Prozent aller vermieteten Wohnungen. Nur 29 Prozent gehörten Unternehmen. Das belegen Zahlen des Bundesamts für Statistik. Seither hat sich das Bild gewandelt: Anlagestiftungen, Banken und Versicherungen gehörten 2017 fast 40 Prozent der 2,2 Millionen Wohnungen, bei den Privatpersonen sank der Anteil auf 47 Prozent.
Der K-Tipp hat untersucht, welche Investoren die meisten Wohnungen besitzen – und wer in den vergangenen zehn Jahren dazukaufte. Die Zahlen basieren auf Angaben in Geschäftsberichten, einer Umfrage bei Firmen und auf Hochrechnungen. Die Anlagestiftung Swisscanto von der Zürcher Kantonalbank (ZKB) gibt nicht bekannt, wie viele Wohnungen ihr gehören. Ebenso hält es die Pensionskasse Profond.
Die anderen 13 Pensionskassen, Immobilienfonds, Anlagestiftungen und eine Versicherung gaben Auskunft:
Von 2008 bis 2018 kauften sie 33 917 Wohnungen. Swiss Life gehören die meisten Wohnliegenschaften. 24 000 Wohnungen waren es 2008, zehn Jahre später bereits 33 000 (siehe Tabelle im PDF). Der Wert ihrer Wohn- und Geschäftsliegenschaften stieg von 11 auf 29 Milliarden Franken.
Mieter finanzieren ihre eigene Altersvorsorge
Der Migros-Pensionskasse gehörten 2018 über 13 000 Wohnungen. Innert zehn Jahren hatte sie fast 1300 Wohnungen dazugekauft. Immobilienfonds der UBS, Credit Suisse und ZKB investieren ebenfalls stark in Wohnliegenschaften.
Die fünf Fonds der UBS halten 21 840 Wohnungen mit einem Marktwert von über 8 Milliarden Franken. Zehn Jahre zuvor waren ihre 16 800 Wohnungen nur gerade die Hälfte wert.
Die Anleger erwarten eine gute Rendite, die Mieter bezahlen. Der Verband der Investoren Schweiz verweist darauf, dass Pensionskassen und Anlagestiftungen einen Teil der ihnen anvertrauten Gelder in Wohnliegenschaften anlegen würden. Das garantiere den Investoren «einigermassen sichere Erträge, die sie im Interesse der Versicherten und Anleger erzielen müssen». Mit anderen Worten: Mit hohen Wohnkosten finanzieren Mieter ihre eigene Altersvorsorge. Im schlimmsten Fall werden Mieter auf die Strasse gestellt.
Gertrud Tobler hatte Glück. Die 85-Jährige und ihr Mann fanden eine bezahlbare Wohnung in Regensdorf. Das war in ihrem Alter nicht leicht. Aber seit einem halben Jahr haben sie ein schönes neues Zuhause.
«Mehr bezahlbare Wohnungen»: Darüber wird abgestimmt
Die Schweizer stimmen am 9. Februar darüber ab, ob Bund und Kantone preisgünstige Mietwohnungen stärker fördern sollen. Die Initiative verlangt, dass der Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus an den neu gebauten Wohnungen gesamtschweizerisch bei mindestens 10 Prozent liegen soll. Dazu sollen Kantone und Gemeinden bei geeigneten Grundstücken für sich ein Vorkaufsrecht einräumen können.