Die Zuschriften der K-Tipp-Leser häuften sich in letzter Zeit: «Ich habe einen Brief nach Genf geschickt und dummerweise mit der Hausnummer 2 statt 7 adressiert. Die Strasse ist sehr kurz. Trotzdem bekam ich den Brief zurück.» Oder: «Auf meinem Brief nach Mendrisio fehlte nur die Hausnummer. Aber der Brief kam retour.» – «Bei mir war nur die Postleitzahl falsch. Kann die Post einen solchen Brief nicht zustellen?» Sie könnte schon. Aber eins nach dem anderen.
Einst war die Post dafür bekannt, dass sie Briefe sogar zustellte, wenn die Adresse ein einziges Rätsel war. Heute beklagen sich viele Leser über die Leistung der Post. Doch in vielen Fällen vollbringt sie noch immer Beachtliches. Wie das möglich ist, zeigt ein Augenschein des K-Tipp in Härkingen SO. Dort steht eines der drei grossen Briefzentren, in denen die Post die Briefe sortiert. Die anderen befinden sich in Eclépens VD und Zürich-Mülligen.
In Härkingen stehen elf Sortiermaschinen. Die mehrere Dutzend Meter langen Ungetüme verarbeiten gegen 40 000 Briefe pro Stunde. Sie lesen die Adresse, gleichen sie mit der Datenbank aller Schweizer Adressen ab und spritzen einen orangen Code auf den unteren Rand, der Angaben zur Adresse enthält. Anschliessend landen die Briefe je nach Bestimmungsort in einer anderen Kiste. Im Idealfall.
Falls die Sortiermaschine die Adresse nicht lesen kann, geht ein Bild in die Videocodierung in Sitten, wo Angestellte innert acht Sekunden die Postleitzahl eingeben müssen, damit der Code aufgespritzt werden kann. Schaffen sie das nicht, sortiert die Maschine in Härkingen den Brief vorerst aus.
Es ist nicht selten der Fall, dass eine Handschrift nur schwer leserlich, eine Adresse unvollständig oder zu klein geschrieben ist oder dass ein Brief im Fenstercouvert so verrutscht, dass die Adresse nur noch teilweise sichtbar ist. Die Sortiermaschine erhält bei solchen Sendungen eine zweite Chance.
Scheitert die Maschine, greift der Mensch ein
Kann die Anlage die Adresse auch im zweiten Anlauf nicht lesen, kommt der Brief in die Handsortierung. Angestellte legen die Briefe in atemberaubendem Tempo in Fächer mit der richtigen Postleitzahl.
Aber es gibt auch Fälle, die sich nicht so schnell lösen lassen. «Dann kommen sie in unsere ‹Briefklinik›», erklärt Hansruedi Käser, Fachverantwortlicher Sortierung in Härkingen. Dort entziffern Spezialisten die Adressen. Zum Beispiel wenn die Postleitzahl kaum leserlich ist und die Ortschaft nach «Neuegg» aussieht. Dann ist für die Profis in der «Briefklinik» sofort klar: «3176 Neuenegg.»
Wenn nichts hilft, wird der Brief vernichtet
Und wenn alles nichts nützt? «Dann geht der Brief zurück an den Absender», sagt Hansruedi Käser. Im Idealfall steht der Absender auf dem Umschlag. Oder er lässt sich etwa über die im Internet gekaufte Briefmarke Webstamp ermitteln. Wenn alles nichts hilft, dann öffnen die «Briefklinik»-Angestellten den Brief.
Dazu ermächtigt sich die Post in ihren AGB: «Die Post ist berechtigt, Retouren zur Ermittlung des Absenders zu öffnen. Kann der Absender nicht ermittelt werden, verfügt die Post freihändig über die Sendung.» Oder anders gesagt: Sie vernichtet den Brief.
Doch zurück zu den eingangs erwähnten Briefen. Warum kamen sie nicht an? Die Post kann es nicht sagen. Dank den Nachforschungen der «Briefklinik» und dank der Ortskenntnisse der Briefträger stellt sie zwar viele falsch adressierte Briefe zu. Aber immer gelingt das nicht.
K-Tipp-Stichprobe: Alle Briefe kamen an
Der K-Tipp wollte wissen, was mit fehlerhaft adressierten Briefen geschieht, und führte eine Stichprobe durch. Er schickte je zwölf A-Post-Briefe nach Zürich und Glarus. Mal war die Strasse falsch geschrieben, mal fehlte die Hausnummer oder war falsch, und mal war die Postleitzahl unvollständig oder falsch.
Das Resultat: Alle 24 Briefe kamen an – in Glarus sogar alle pünktlich. In Zürich kamen fünf Briefe mit einer Verspätung von bis zu zwei Arbeitstagen an. «Jeder Fehler führt zu einer Verzögerung in der Verarbeitung», erklärt Post-Mediensprecher Oliver Flüeler. Die «Adressqualität» sei das A und O für eine pünktliche Zustellung.