Freitag, 19. März 2021: Die Abfahrt des SBB-Intercitys von Bern nach Interlaken verzögert sich an jenem Abend sehr lange. Sämtliche Anzeigetafeln im Bahnhof Bern fallen aufgrund einer Softwarepanne bei den SBB aus. Als sich K-Tipp-Leserin Jutta Ihle aus Bern in die offene Türe stellt, um zu schauen, wohin ihr Zug abfährt, schliesst sich die Zugtür unvermittelt mit grosser Wucht.
Sie prallt auf den Kopf der 56-Jährigen und zerschmettert ihre Brille. Eine Zugbegleiterin beobachtet den Unfall, meldet ihn aber der SBB-Unfallstelle nicht. Eigentlich sollten Sensoren an der Zugtür der Bundesbahnen das Schliessen verhindern, wenn sich jemand im Türbereich befindet.Nicht so bei Jutta Ihle. «Ich versuchte, an der nächsten Haltestelle den Zug irgendwie zu verlassen und ärztliche Hilfe zu holen», erinnert sie sich.
Wenige Tage nach dem Unfall zeigte ein MRI am Berner Inselspital: Jutta Ihles zweiter Halswirbel ist angebrochen, infolge des heftigen Aufpralls sind weitere Wirbel bis zum achten Brustwirbel verschoben. Auf ihre Beschwerde beim Kundendienst antworteten die SBB: «Es freut uns, dass Sie mit uns unterwegs sind. Umso mehr bedauern wir den Unfall. Falls Beschwerden auftreten, melden Sie dies bitte Ihrer Unfallversicherung.»
Im Februar 2022, fast ein Jahr nach dem Unfall, empfehlen Wirbelsäulenchirurgen am Inselspital eine Schmerztherapie. Nur: Jutta Ihles Unfallversicherung Axa übernimmt die Kosten nicht. Denn die spezielle Schmerztherapie wird von den meisten Krankenkassen und Unfallversicherungen nicht anerkannt.
Deshalb fordert Ihle die SBB in mehreren E-Mails und Telefonanrufen auf, die Kosten für die Behandlung zu bezahlen. Mehrere Monate später meldet sich der SBB-Rechtsdienst bei der K-Tipp-Leserin mit einem finanziellen Angebot. Der SBB-Jurist schreibt der GA-Besitzerin per E-Mail: Am betroffenen Zug sei «keine Türstörung registriert worden. Ist ein Zug störungsfrei unterwegs und passiert ein Unfall beim Ein- und Aussteigen, sind die SBB nicht haftbar.»
Jutta Ihle ist kein Einzelfall: Der K-Tipp hat amtliche Unfallmeldungen seit 2019 ausgewertet. Damals war ein SBB-Zugbegleiter in einer Tür eingeklemmt und zu Tode geschleift worden. Die SBB melden dem Bundesamt für Verkehr seitdem über 300 Unfälle, die beim Ein- und Aussteigen passierten und einen Arzt- oder Spitalbesuch nötig machten. Allein bei 75 der über 300 Unfälle gibt die SBB in den Unfallprotokollen als Grund einen „technischen Defekt der Tür/Türsteuerung“ an. Bei den anderen Unfällen geben die SBB „Fehlhandlungen“ der Passagiere an. In den Unfallprotokollen zu diesen angeblich selbstverschuldeten Unfällen liesst man etwa: «Die Person will aussteigen, dabei schliesst sich die Türe, und sie wird eingeklemmt.»
Laut Ralph Kessler, Präsident der Gewerkschaft des Zugpersonals, sind Unfälle an Zugtüren häufig: «Wir erfahren etwa alle zwei Monate von Unfällen und gefährlichen Situationen mit Türen von älteren Zügen.» Nicht alle Unfälle werden vom SBB-Personal beobachtet und gemeldet.
SBB müssen erst bis Ende 2025 umrüsten
Die Probleme sind auch dem Bundesamt für Verkehr bekannt. Es verpflichtete die SBB, gefährliche Zugtüren von Euro-City-, Interregio- und Intercityzügen zu ersetzen. Das Problem: Der Bund gibt den SBB für diese Umrüstung Zeit bis Ende 2025.
Die SBB boten Jutta Ihle im letzten Mai an, «einmalig» die von ihr geforderten Fr. 723.60 zu zahlen. Das entspricht den Kosten für fünf Sitzungen Schmerztherapie. Als «Gegenleistung» verlangten die SBB, dass ihre langjährige Kundin schriftlich auf weitere Forderungen verzichtet. Dabei leidet Ihle noch heute unter Schmerzen in Schulter, Nacken und Wirbelsäule. Sie unterschrieb die Vereinbarung trotzdem.
Die SBB schreiben dem K-Tipp, man bedauere den «Vorfall» und rüste ältere Zugtüren zurzeit mit besserem Einklemmschutz nach. Die Bahn hält daran fest, dass «beim betreffenden Fahrzeug keine Türstörung festgestellt worden ist». Auf Nachfrage sagt sie: «Sollten der Kundin trotz der unterzeichneten Vereinbarung Kosten entstehen, wird die SBB die Übernahme prüfen.»
Jutta Ihle arbeitet in einem Unispital als Pflegeleiterin. Sie weiss nicht, ob ihre Schmerzen je wieder aufhören. Was sie am meisten stört: «Eine offizielle Entschuldigung der SBB habe ich nie erhalten.»
Das sollten Bahnreisende bei einem Unfall beachten
Bei Unfällen mit öffent lichen Verkehrsmitteln gilt:
- Notieren Sie Namen von Zeugen, Zug- und Wagennummer. Machen Sie Fotos. Melden Sie Störungen dem Zugpersonal. Achten Sie darauf, dass die Störung im System vermerkt wird.
- Konsultieren Sie bei Verletzungen möglichst rasch einen Arzt.
- Unterschreiben Sie keine Vergleichsvereinbarung, ohne vorher mit einem Anwalt gesprochen zu haben.
- Haben Sie dennoch eine Vergleichsvereinbarung unterzeichnet und entstehen weitere ungedeckte medizinische Kosten, insistieren Sie bei den SBB, dass sie auch die Folgekosten des Unfalls übernehmen. Weigern sich die SBB, lassen Sie sich von einem auf Unfälle spezialisierten Anwalt beraten.