«Den Blutdruck im Auge behalten»
Ritalin und ähnliche Medikamente erhöhen bei vielen Patienten den Blutdruck. Fachleute sagen, die Gefahr von Kreislaufschäden werde zu wenig beachtet.
Inhalt
Gesundheitstipp 04/2012
07.04.2012
Letzte Aktualisierung:
10.04.2012
Andreas Gossweiler
Ärzte verschreiben hyperaktiven Kindern immer häufiger Medikamente. Das bekannteste ist Ritalin. Jetzt zeigt sich: Der Wirkstoff Methylphenidat, der auch in den Medikamenten Concerta und Medikinet enthalten ist, kann gefährliche Nebenwirkungen haben. Martin Hulpke-Wette, Herzspezialist für Kinder in Göttingen (D), sagt: «Bei 80 Prozent der Patienten erhöht Methylphenidat den Blutdruck um mehr als 5 Einheiten.» Das zeigen laut Hulpke-Wet...
Ärzte verschreiben hyperaktiven Kindern immer häufiger Medikamente. Das bekannteste ist Ritalin. Jetzt zeigt sich: Der Wirkstoff Methylphenidat, der auch in den Medikamenten Concerta und Medikinet enthalten ist, kann gefährliche Nebenwirkungen haben. Martin Hulpke-Wette, Herzspezialist für Kinder in Göttingen (D), sagt: «Bei 80 Prozent der Patienten erhöht Methylphenidat den Blutdruck um mehr als 5 Einheiten.» Das zeigen laut Hulpke-Wette unveröffentlichte Studien, die er bei der europäischen Medikamentenbehörde EMA einsehen konnte. Eine Einheit beträgt einen Millimeter auf der Quecksilbersäule. «In meiner Praxis sehe ich immer wieder Patienten, deren Blutdruck nach der Einnahme von Methylphenidat sogar um 15 bis 20 Einheiten steigt», sagt der deutsche Arzt. Das sei gefährlich für die Betroffenen: «Jahrelang hoher Blutdruck kann Gefässschäden verursachen.» Doch diese Gefahr werde bei der Behandlung der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu wenig beachtet.
Mehrere Todesfälle in den USA
Schon früher geriet Methylphenidat in den Verdacht, es könne dem Kreislauf schaden. Laut der US-Arzneimittelbehörde FDA starben zwischen 1999 und 2004 neunzehn Kinder, die mit ADHS-Medikamenten behandelt worden waren, am plötzlichen Herztod. Andere Kinder erlitten Schlaganfälle oder einen Herzstillstand. Zwei Studien, die im letzten Jahr veröffentlicht wurden, kamen zwar zum Schluss, dass ADHS-Medikamente das Risiko für schwere Herzkrankheiten nicht erhöhen würden. Doch Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», sagt, die Studien seien «kein erstklassiger Beweis», dass die Medikamente ungefährlich seien.
Hulpke-Wette fordert, Ärzte müssten vor und während der Behandlung den Blutdruck der Patienten kontrollieren. Wenn er zu hoch sei, sollten sie die Dosis des Medikaments verkleinern: «Wenn das bei schweren ADHS-Fällen nicht möglich ist, sollte man den Blutdruck mit einem Medikament senken.» Auch Hibiskusblütentee könne helfen.
Dasselbe Risiko beim Wirkstoff Atomoxetin
Nicht nur Methylphenidat kann den Blutdruck erhöhen. Letzten Dezember informierte die Pharmafirma Lilly Deutschland GmbH die Ärzte, dass das ADHS-Medikament Strattera, das den Wirkstoff Atomoxetin enthält, den Blutdruck bei Patienten um 15 bis 20 Einheiten «oder mehr» erhöhen könne.
Die Ritalin-Herstellerin Novartis sagt: «Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Einnahme von Methylphenidat und dem plötzlichen Herztod konnte nicht nachgewiesen werden.» Dennoch müssten Ärzte die Patienten vor Beginn der Behandlung mit Ritalin auf vorbestehende Herzkrankheiten untersuchen. Das stehe in der Fachinformation. Die Firma Medice, die das Medikament Medikinet verkauft, sagt, bei Patienten, die mit Methylphenidat behandelt werden, sei das Risiko schwerer Herzkrankheiten nicht grösser als bei der unbehandelten Normalbevölkerung. Die Pharmafirma Janssen-Cilag, Herstellerin von Concerta, sagt: «Methylphenidat erhöht den Blutdruck meist nur geringfügig.» Einige ADHS-Patienten, die einen plötzlichen Herztod erlitten, hätten Herzfehler oder andere Herzprobleme gehabt. Diese Patienten hätten jedoch nicht Concerta verwendet.