Der Kluge wohnt nicht neben dem Zuge
Die Magnetfelder der Eisenbahn erreichen hohe Spitzenwerte. Mit einem «Trick» halten die SBB den Grenzwert trotzdem ein: Für sie gilt ein 24-Stunden-Mittelwert.
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K-Tipp 12/2006
14.06.2006
Ernst Meierhofer - ernst.meierhofer@ktipp.ch
Auf den ersten Blick könnte man einen Zaubertrick vermuten. «Ich kann mit Messgeräten an den Heizungsradiatoren in meinem Haus feststellen, wann im Bahnhof ein Zug abfährt», sagt der Messtechniker Fritz Jöhr aus Rüdtligen BE. Er wohnt rund einen Kilometer vom Bahnhof entfernt.
Das für Laien erstaunliche Phänomen ist physikalisch erklärbar: Es beruht auf der Tatsache, dass Eisenbahnen mit Strom fahren und damit Anwohner in der näheren und weiteren Umgebung mit Elektrosmo...
Auf den ersten Blick könnte man einen Zaubertrick vermuten. «Ich kann mit Messgeräten an den Heizungsradiatoren in meinem Haus feststellen, wann im Bahnhof ein Zug abfährt», sagt der Messtechniker Fritz Jöhr aus Rüdtligen BE. Er wohnt rund einen Kilometer vom Bahnhof entfernt.
Das für Laien erstaunliche Phänomen ist physikalisch erklärbar: Es beruht auf der Tatsache, dass Eisenbahnen mit Strom fahren und damit Anwohner in der näheren und weiteren Umgebung mit Elektrosmog belasten.
Genauer: Der SBB-Strom erzeugt - unter anderem - gesundheitlich bedenkliche magnetische Felder. Diese sind oft auch in Entfernungen bis zu 1000 Metern messbar. Ganz in der Nähe von Bahnlinien sind sie teils massiv.
Wie zum Beispiel in einem Haus in Uster ZH an der Bahnstrecke Uster- Wetzikon. Unmittelbar neben dem Gebäude be?nden sich in einem Abstand von 14 Metern die SBB-Schienen mit der Fahrleitung. Zudem verläuft im Abstand von elf Metern eine SBB-eigene Hochspannungsleitung.
Der K-Tipp darf den Standort nicht nennen; der Besitzer möchte anonym bleiben, weil er sein Haus später verkaufen will: «Eine Publikation würde meine Liegenschaft entwerten, ich müsste einen riesigen Minderwert in Kauf nehmen.»
Der Grund: Ein Messtechniker hat im Haus massive magnetische Felder gemessen - bis zu einer Feldstärke von 3000 Nanotesla im Kinderzimmer und im Elternschlafzimmer.
Baubiologen und Messtechniker kennen viele solche Fälle in der Schweiz. Ein besonders krasses Beispiel hat Adrian Nussbaumer aus Zug gemessen. In einer ehemaligen Fabrikhalle beim Bahnhof Winterthur, die jetzt ein Wohn- und Bürokomplex ist, stellte Nussbaumer Spitzen bis zu happigen 7740 Nanotesla fest, die eindeutig vom Bahnstrom herrühren (siehe Gra?k rechts).
Die Bahn darf einen Sonderzug fahren
Rein zahlenmässig betrachtet überschreiten all diese Messresultate den Grenzwert für Magnetfelder; dieser liegt für Wohnungen und Arbeitsplätze bei 1000 Nanotesla (nT).
Doch die Bahn darf bei diesem so genannten Anlagegrenzwert einen Sonderzug fahren. Während die 1000 nT etwa bei neueren Hochspannungsleitungen und Trafostationen permanent einzuhalten sind, ist für die Bahn nur der Mittelwert von 24 Stunden entscheidend.
Nur dank dieser gesetzlichen Sonderbehandlung gelingt es der Bahn, den Grenzwert von 1000 Nanotesla einzuhalten - sogar beim krassen Fall des Spitzenwerts von 7740 nT beim Bahnhof Winterthur, wo der gemessene Mittelwert über 24 Stunden «nur» bei 954 nT liegt.
Die Gra?k zeigt auch, warum das so ist: weil die Züge in der Nacht meist nicht fahren. Dies drückt den Messdurchschnitt nach unten - und der Grenzwert ist formell eingehalten. Baubiologen und Messtechniker verfügen über unzählige Messresultate mit hohen Spitzen, bei denen das 24-Stunden-Mittel trotzdem im gesetzlichen Rahmen bleibt.
Für Baubiologen sind auch diese 1000 Nanotesla noch zu hoch. Sie raten, im Schlafbereich höchstens 20 nT zuzulassen, an Arbeitsplätzen 60 nT.
Unzählige Studien belegen das Gesundheitsrisiko von magnetischen Feldern - auch wenn sie schwach sind. Mehrere Untersuchungen zum Einfluss solcher Felder haben ergeben, dass ab einer Dauerbelastung von 200 bis 400 nT das Risiko von Erkrankungen besteht. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) schreibt: «Ab einer Langzeitbelastung von 400 Nanotesla besteht möglicherweise ein doppelt so hohes Risiko von Blutkrebs bei Kindern.»
Ein weiteres Problem beim Bahnstrom ist, dass es bis zu einer Entfernung von 1000 Metern starke Belastungen gibt. Diese stammen dann nicht mehr von den direkten magnetischen Feldern der Fahrleitung, sondern von vagabundierenden Rückströmen - die aber ebenfalls der Bahn anzulasten sind.
Der Baubiologe Guido Huwiler aus Maschwanden ZH kennt einen Fall in Stäfa ZH. In einem Haus, das rund 75 Meter von der Bahnlinie entfernt ist, mass er Spitzenwerte von 1980 Nanotesla. Sie stammen eindeutig vom Rückstrom der Bahn, der sich einen Weg durchs Quartier sucht. Als nämlich beim Umbau des Hauses die unterirdische Gasleitung freigelegt wurde, konnte er unmittelbar an diesem Rohr extrem hohe Werte von 17 200 nT messen. So ?ndet der vagabundierende Bahnstrom über Hausanschlüsse für Wasser oder Gas den Weg ins Innere von Häusern.
Solche Kriechströme spielen auch bei der erwähnten ehemaligen Fabrikhalle beim Bahnhof Winterthur eine Rolle. Und sie sind auch der Grund, warum Fritz Jöhr aus Rüdtligen BE an seinen Heizungsradiatoren feststellen kann, wann im weit entfernten Bahnhof ein Zug abfährt.
SBB sehen keinen Handlungsbedarf
Diese «Vagabunden» sind nicht nur ein gesundheitliches Problem. Sie verursachen auch Korrosionsschäden an öffentlichen Wasser- und Gasleitungen.
Immerhin ist Abhilfe möglich. Wo vagabundierende Ströme der Bahn via Wasser-, Gas- oder sonstige Werkleitungen ins Haus schleichen, kann der Fachmann (am besten ein konzessionierter Elektriker mit Fachrichtung Elektrobiologie) die ins Haus führenden Leitungen mit speziellen Elementen zur galvanischen Trennung ausrüsten.
Im Haus einer Frau im Raum Luzern konnte der Messtechniker Bruno Vorburger auf diese Weise markante Erfolge erzielen. Sie hatte vor der Sanierung unter verschiedensten gesundheitlichen Beschwerden gelitten (die Feldstärke hatte Spitzen von 4500 nT erreicht). Nach dem Einbau der Elemente zur galvanischen Trennung trat eine markante Besserung ein; jetzt wurden nur noch 100 bis 200 nT gemessen.
Sanierungsmöglichkeiten gibt es auch in unmittelbarer Nähe der Bahn, wenn die magnetischen Felder auf direktem Weg ins Haus dringen. Darauf ist die MPA Engineering AG in Effretikon ZH spezialisiert. Ihr Chef, Josef Peter, sagt: «Wenn man alle elektromagnetischen Felder fachkundig ableitet, die Streustromflüsse vorschriftsgemäss unterbricht und die Magnetfelder kompensiert, kann ein Haus seinen Wert und die Schlaf- und Wohnqualität bleibend erhalten.»
Die SBB selber sehen keinen Handlungsbedarf. Fahr- und Übertragungsleitungen seien «praktisch auf der vollen Länge vollständig saniert gemäss den gesetzlichen Anforderungen und gemäss dem neuesten technischen Stand». Und der Bund habe die Grenzwerte nach Massstäben festgelegt, «wonach nach geltendem Wissensstand keine Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung besteht».
Der Rückstrom verseucht ganze Quartiere
Die Stromversorgung der Bahn verläuft über die Fahrleitung. Für den Rückweg des Stroms stehen die Schienen zur Verfügung, dazu das zwischen den Masten gespannte Erdseil sowie das Erdreich. Der grosse Abstand zwischen Fahrleitung einerseits und Schiene bzw. Erdseil andrerseits bewirkt die starken magnetischen Felder, wenn auf diesem Abschnitt ein Zug fährt.
Schätzungsweise 30 Prozent des Rückstroms fliessen nicht geordnet über Schiene und Erdseil zurück ins SBB-Unterwerk, sondern über das Erdreich. Dort sucht sich der Rückstrom den Weg des geringsten Widerstandes. Meist sind das metallische Rohre der Wasser- und Gasversorgung, was an diesen Rohren zu Korrosionsschäden führt. Zudem können die unkontrollierten Fehlströme die Strassenbeleuchtung in Bahnnähe schädigen.
Solche Probleme gab es auch in Dietlikon ZH. Doch Bereichsleiter René Mathys vom örtlichen Gemeindewerk konnte Abhilfe schaffen. Er hat die vagabundierenden Rückströme der Bahn an 14 Anschlusspunkten mit dem Erdungssystem der öffentlichen Energieversorgung engmaschig verbunden und so in geordnete Bahnen gelenkt. «Damit haben wir die Schäden an unseren Wasserleitungen in den Strassen entlang dem Bahntrassee ganz massiv senken können.»
Von solchen Massnahmen profitieren auch Unternehmen in Bahnnähe, bei denen die Rückströme der Bahn Störungen an hoch empfindlichen technischen Geräten verursachen können.
Hohe Spitzenwerte - aber der Grenzwert ist formell trotzdem eingehalten
Die Grafik zeigt das 24-Stunden-Messprotokoll in einem Gebäude beim Bahnhof Winterthur. Die höchsten Spitzen (bis 7740 Nanotesla, nT) entstehen immer dann, wenn in der Nähe eine Lokomotive anfährt oder bremst; dann fliesst am meisten Strom, und die magnetischen Felder sind am stärksten. So gesehen bildet das Messprotokoll auch den Fahrplan ab.
Der Grenzwert für Wohnungen und Arbeitsplätze beträgt 1000 nT (rote Linie); er ist hier formell eingehalten, weil die Bahn auf den 24-Stunden-Mittelwert abstellen darf. Würde man für die Berechnung des Durchschnitts nur die 18 «aktiven» Betriebsstunden mit viel Verkehr berücksichtigen und die sechs Nachtstunden mit wenig Verkehr weglassen, käme man auf 1160 nT. Der Grenzwert wäre dann überschritten.
Zwar verursachen auch die «normalen» elektrischen Einrichtungen in Häusern zum Teil starke magnetische Felder (siehe K-Tipp 4/06). Die Felder der Bahn sind aber messtechnisch klar separierbar, weil die Bahn mit 16 2/3 Hertz fährt, während die öffentliche Stromversorgung mit 50 Hertz funktioniert.