Wenn Politiker und Medien behaupten, dem Mittelstand gehe es immer schlechter, führen sie pauschal die verschiedensten Gründe ins Feld:
Die Krankenkassenprämien steigen viel schneller als die Löhne; die Mehrwertsteuer wurde erhöht und die Beiträge an die EO (Erwerbsersatz), die Invaliden- und die Arbeitslosenversicherung wurden angehoben. Dazu kommen die Gemeinden und Kantone, die an der Gebührenschraube drehen.
Bei den Reichen, so die These, fallen all diese steigenden Ausgaben nicht so stark ins Gewicht. Und den untersten Einkommensschichten greift der Sozialstaat massiv unter die Arme. Bleibt der Mittelstand, der besonders unter den steigenden Abgaben leide.
Diese Entwicklung führt laut einer im April veröffentlichten Studie des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) zu einer im-mer ungleicheren Verteilung des Reichtums. Die Politik habe diese Entwicklung verstärkt:
«Die Einkommens- und Vermögenssteuern, welche die Reichen und Gutsituierten am stärksten belasten, sind gesenkt worden. Erhöht worden sind die indirekten Steuern und Gebühren, welche die tiefen und mittleren Einkommen teuer zu stehen kommen», steht im SGB-Bericht.
Kleine Datenbasis beim Bundesamt für Statistik
Doch so klar ist die Sache keineswegs. Das Büro für Arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) hat die Zahlen ebenfalls durchforstet – im Auftrag des Verbands Angestellte Schweiz. Es kommt zu einem andern Fazit:
Die mittleren Einkommensschichten konnten ihren Anteil am Gesamteinkommen in den Jahren 2000 bis 2005 leicht vergrössern, erlitten aber zwischen 2006 und 2008 einen leichten Rückschlag. Doch daraus lässt sich weder ein bedrohter Mittelstand noch eine Umverteilung von unten nach oben ableiten.
Wer hat recht? Über die umfassendste Datenbasis verfügt das Bundesamt für Statistik. Es stellte saldo zum Teil unveröffentlichte Zahlen zur finanziellen Situation der Schweizer Erwerbshaushalte zur Verfügung – also jener Haushalte, die ihr Einkommen primär aus Erwerbstätigkeit und Kapitalerträgen, aber nicht aus Renten schöpfen.
Doch auch diese Zahlen können die Frage nicht klären, ob es dem Mittelstand tatsächlich immer schlechter geht. Der Grund: Sie basieren auf einer sehr kleinen Datenbasis. Es gibt in der Schweiz rund 3,5 Millionen Haushalte.
Aber nur ein kleiner Bruchteil davon wird vom Bundesamt punkto Einnahmen und Ausgaben analysiert. 1998 waren es 9000, seither sind es noch ganze 3000 pro Jahr. Kommt hinzu: Die Auswahl der berücksichtigten Haushalte erfolgt nach einem Zufallsverfahren aus dem Register der privaten Telefonanschlüsse, wobei die Teilnahme erst noch freiwillig ist.
Die Zahlenreihen des Bundesamtes für die Jahre 1998 bis 2008 fördern denn auch Widersprüchliches zu Tage:
- Das unterste Einkommensfünftel, also jene 20 Prozent, die am wenigsten verdienen, verzeichnete laut Bundesamt den grössten Zuwachs beim Bruttoeinkommen. Es stieg inflationsbereinigt zwischen 1998 und 2008 um 5,5 Prozent auf durchschnittlich 4960 Franken pro Monat.
- Das oberste Einkommensfünftel wurde bei den Steuern und anderen Zwangsausgaben nicht entlastet. Im Gegenteil: Diese stiegen real um 15,8 Prozent auf monatlich 5115 Franken. Es handelt sich um die stärkste prozentuale Zunahme aller Einkommensfünftel.
- Das verfügbare Einkommen (Bruttoeinkommen minus Zwangsabgaben) ist seit 1998 bei den mittleren Einkommensschichten gestiegen, und zwar mit einem realen Plus von 2,3 bis 3,8 Prozent etwas deutlicher als bei den anderen. Praktisch stagniert hat das verfügbare Einkommen des obersten Fünftels.
Das kann nicht aufgehen: Warum soll das Einkommen des bestsituierten Bevölkerungsteils stagniert haben, wenn doch die Spitzensaläre in derselben Zeit in astronomische Höhen geklettert sind?
So haben sich die Angestellten mit einem Lohn von über 1 Million Franken pro Jahr gemäss AHV-Statistik innerhalb von zehn Jahren mehr als vervierfacht – auf 2824 im Jahr 2008. Und die Anzahl Personen mit einem Lohn über einer halben Million stieg in der gleichen Zeitspanne auf 12 405 – etwa eine Verdreifachung.
Je nach Zeitperiode andere Resultate
Dass die Zahlen des Bundesamtes wenig aussagekräftig sind, zeigt sich auch, wenn man eine andere Zeitperiode wählt. Geht man nicht bis 1998 zurück, sondern pickt die Jahre 2003 bis 2008 heraus, liefern die Zahlen andere Ergebnisse.
In dieser Zeitspanne nahm das Gesamteinkommen des untersten Fünftels nicht zu, sondern real markant ab. Das einkommensstärkste Fünftel stagnierte nicht, sondern legte inflationsbereinigt um 3,3 Prozent zu.
Für Ökonomie-Professorin Monika Bütler von der Universität St. Gallen ist klar: «Jeder kann aus den Statistiken herauslesen, was er will. Man sollte extrem vorsichtig sein mit Interpretationen. Die Statistiken zeigen nur einen Teil der Wahrheit. Um gesicherte Aussagen zu machen, müsste man viel tiefer graben.»
Beispiel Frauenarbeit: Viele Familien können ihre finanzielle Situation nur halten oder verbessern, indem die Mutter ein Zweiteinkommen beisteuert. Aus der Statistik geht nicht hervor, dass die Erhöhung des Haushaltseinkommens durch Mehrarbeit erkauft wurde.