Amélie Carli (Name geändert) aus Gland VD bestellte Ende letzten Jahres beim chinesischen Internethändler Aliexpress für rund 20 Franken eine Handtasche. Sie hatte zuvor eine ähnliche Tasche bei Manor gesehen, die ihr für 100 Franken aber zu teuer war.
Statt der Tasche erhielt Carli amtliche Post der Zollstelle Zürich-Mülligen. Ihre Bestellung werde «gemäss dem Markengesetz» zurückbehalten, hiess es darin. Die Ware werde auf Antrag des Rechteinhabers – der Hermès lnternational SCA mit Sitz in Paris – vernichtet, sofern sie innert 10 Tagen keinen Widerspruch dagegen erhebe. Auf ihre Nachfrage hin warnte ein Zollbeamter die Frau vor hohen Kosten, falls sie mit der Vernichtung nicht einverstanden wäre. Deshalb verzichtete Carli auf die Herausgabe ihrer Tasche.
Carli war nicht bewusst, dass die bestellte Handtasche ein nachgeahmtes Markenprodukt sein könnte. Sie trägt weder eine Aufschrift noch ein Logo des französischen Luxusmodehauses Hermès (siehe Bild). Die Zollbeamten sind weder Markenexperten noch Designspezialisten oder Juristen. Und doch entscheiden sie bei der Verzollung einer Ware, ob es sich um unzulässige Nachahmungen handeln könnte.
Keine Vernichtung ohne Okay des Käufers
Voraussetzung für eine Beschlagnahmung durch den Zoll ist ein entsprechender Antrag des Inhabers der Design- und Markenrechte. Der Zoll ist aber nicht berechtigt, die Ware gegen den Willen der Eigentümer zu behalten. Er kann nur den Empfänger fragen, ob er mit einer Vernichtung einverstanden ist. Widerspricht dieser, muss der Zoll die Ware an den Käufer herausgeben, sofern der Rechteinhaber nicht innert 10 Tagen ein Verfahren einleitet.
Gemäss Statistik der Eidgenössischen Zollverwaltung beschlagnahmte der Zoll 2020 nicht weniger als 4433 Handelswaren. Was Carli nicht wusste: Es wäre höchst unwahrscheinlich gewesen, dass Hermès ein Gerichtsverfahren gegen sie eingeleitet hätte, wenn sie die Herausgabe der Tasche verlangt hätte. Dem K-Tipp liegt bis heute kein einziger Fall vor, bei dem ein angeblicher Inhaber von Markenrechten gegen eine Privatperson gerichtlich vorgegangen wäre. Auch dem Institut für geistiges Eigentum und dem Zoll ist kein solcher Fall bekannt. Wie viele Betroffene sich gegen die Beschlagnahmung zur Wehr setzen, hält der Zoll eigenen Angaben zufolge nicht fest.
Amélie Carli erhielt nach dem Ärger mit dem Zoll auch Post vom Genfer Anwalt von Hermès. Dieser forderte sie auf, 900 Franken zu bezahlen, und zwar «für die Verwässerung der Marke», den Aufwand des Anwaltsbüros sowie für Zollgebühren. Carli bezahlte nicht. Denn diese Forderungen sind rechtlich unhaltbar. Der Hermès-Anwalt nahm gegenüber dem K-Tipp nicht Stellung.
K-Tipp Rechtsschutz
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