Nachts um zwei schrillt das Telefon. Der Mann am andern Ende der Leitung hat starke Bauchschmerzen. Rupert K. Spillmann ist sofort hellwach. «Ich komme gleich», sagts, schlüpft in die Kleider, packt sein Köfferchen und startet seinen alten VW Käfer. Es ist Februar, minus 19 Grad, und die steile Strasse zum Bauernhaus des Patienten eisglatt. Zu Fuss erklimmt er den Hügel bis zum Haus des Patienten und kann diesem den eingeklemmten Leistenbruch «mit eiskalten Händen» wieder richten.
Solche und ähnliche Szenen hat der Arzt aus Thierachern bei Thun immer wieder erlebt. Die Geschichten hat er in einem Buch aufgeschrieben. Darin berichtet er vom 99-jährigen Hans, dessen grösster Wunsch war, 100 zu werden. Kurz davor starb er. Aber auch der Bauer kommt vor, der sein Gebiss versehentlich das WC runterspülte. Oder der Mann, dessen Bauch so dick war, dass er sich nicht mehr bücken konnte, um die Zehennägel zu schneiden. «Fast wie Schlangen wickelten sie sich um seinen Fuss», erinnert sich Spillmann.
Für Spillmann steht der Mensch als Ganzes im Zentrum. Nicht nur die körperlichen Gebrechen, sondern auch das Innere, seine Psyche, seine Lebensumstände. Deshalb nimmt er sich Zeit für Gespräche. Mindestens eine halbe Stunde reserviert Spillmann für jeden Patienten. «Das Schönste für mich ist, wenn ich helfen und das Vertrauen der Menschen gewinnen kann», sagt er. Der Wunsch zu helfen prägt sein Leben. Spillmann studierte in den USA Tropenmedizin, arbeitete in Kolumbien und Westafrika. In Kolumbien gründete er zwei Kinderhilfswerke.
Es ist ein kalter Januartag. Rupert K. Spillmann sitzt in seinem Sprechzimmer. In seinem alten Bauernhaus fühlt man sich um hundert Jahre zurückversetzt. Spillmann ist 75 und hält noch immer täglich Sprechstunde. Er könne von seinem Beruf nicht lassen, doch nun sei er ihm zum Hobby geworden. Es gebe ihm ein gutes Gefühl, noch immer «gebraucht zu werden», wie er es ausdrückt. «Ich fühle mich verpflichtet, für meine Patienten jederzeit als ihr Arzt da zu sein», sagt er. Das bestätigt seine Lebenspartnerin: «Nie schaltet er sein Telefon aus.» Spillmanns Mobiltelefon läutet während der folgenden Stunde auch immer wieder. Mal verspricht er einem Patienten, sich um sein Arbeitszeugnis zu kümmern, mal schärft er einer Frau ein, sich am Nachmittag wieder zu melden, wenn die Schmerzen nicht besserten. Eine Patientin schickte ihm einen Kuchen und einen Brief. Sie schreibt: «Danke für Ihre Hilfe. Bin froh, Sie als meinen Arzt zu haben. Merci.»
Buchtipp: «Aus dem Leben eines Landarztes», Rupert K. Spillmann, Weber Verlag, ca. Fr. 29.–