Vermutet eine Privatperson oder eine Firma, dass sie betrogen wird, kann sie Strafanzeige einreichen. Dann untersuchen Polizei und Staatsanwaltschaft mit allen ihnen gesetzlich zustehenden Mitteln, ob der Vorwurf zutrifft. Die Strafverfolger dürfen die Beschuldigten observieren, ihr Telefon abhören, Hausdurchsuchungen durchführen und sogar Untersuchungshaft anordnen.
Diese Regelung genügt den Versicherungen nicht. Sie fordern für sich ein Sonderrecht. Ihr Problem: Für polizeiliche Zwangsmassnahmen braucht es einen hinreichenden Tatverdacht. Die Versicherungen wollen aber nach eigenem Ermessen und mit Privatdetektiven ihre Kunden ausspionieren dürfen. Das Parlament hat ihnen diesen Wunsch erfüllt. National- und Ständerat beschlossen im März mit grosser Mehrheit ein entsprechendes Gesetz.
Demnach dürfen Versicherungen Privatdetektiven den Auftrag geben, Versicherte zu filmen und Tonaufnahmen zu erstellen – sogar wenn diese auf ihrem Balkon sitzen. Auch technische Instrumente zur Standortbestimmung sind erlaubt – etwa GPS-Tracker, die am Auto angebracht werden. Damit kann immer festgestellt werden, wo sich das Auto befindet. Nur dafür brauchen die Versicherungen eine richterliche Genehmigung.
Das neue Gesetz gilt nicht nur für Kranken- und Unfallversicherungen, sondern auch für AHV, Invalidenversicherung, Ergänzungsleistungen, Familienzulagen und Arbeitslosenversicherung – egal, ob es sich um staatliche oder private Unternehmen handelt. Allen gemein ist: Es handelt sich um Zwangsversicherungen, die Prämienzahlung ist obligatorisch.
Mit dem europaweit einzigartigen Gesetz würden alle, die eine Leistung beantragen – sei es wegen Unfall, Krankheit oder Arbeitslosigkeit – unter Generalverdacht gestellt.
Scharfe Kritik von Rechtsexperten
Die vier Rechtsprofessoren Anne-Sylvie Dupont, Thomas Gächter, Kurt Pärli und Markus Schefer der Universitäten Basel, Genf, Neuenburg und Zürich kritisieren dies mit deutlichen Worten. In einem Schreiben an die National- und Ständeräte halten sie fest: Das Gesetz sehe «keine wirksamen Mechanismen vor, um sicherzustellen, dass nur bei Vorliegen eines klar begründeten Anfangsverdachts oberviert wird».
Das Gesetz gebe den Versicherungen in gewissen Bereichen «weitergehende Observationsmöglichkeiten», als die Strafverfolgungsbehörden und der Geheimdienst hätten. Die vier Professoren fordern: «Es ist so weit wie möglich zu verhindern, dass unschuldige Bezüger in ihrem Privatleben ausspioniert werden.»
Doch der Brief an die Parlamentarier blieb ohne Folgen: Sie gaben den Versicherungen den Freipass zur Schnüffelei.
Stimmvolk soll über Gesetz entscheiden
Eine parteiunabhängige Gruppe um den Rechtsanwalt Philipp Stolkin organisiert das Referendum gegen das neue Gesetz. Das Komitee hat bis zum 5. Juli Zeit, 50 000 Unterschriften zu sammeln. Dann müsste das Gesetz dem Stimmvolk vorgelegt werden. Und die Schweizer könnten selbst bestimmen, ob sie den Versicherungen einen Freipass zur Verletzung ihrer Privatsphäre geben wollen.