Der Brief der Steuerverwaltung des Kantons Bern kam aus heiterem Himmel. Am 24. Februar 2009 wurde die Walliserin Rahel Kempf (Name geändert) aufgefordert, innert 30 Tagen 6448 Franken zu überweisen. Grund der Forderung: Vor fast zehn Jahren kam sie in den Genuss der unentgeltlichen Rechtspflege, weil sie sich damals die Gerichts- und Anwaltskosten für ihre Scheidung nicht leisten konnte.
Klage muss Aussicht auf Erfolg haben
Wenn Mittellose in der Schweiz vor Gericht stehen, haben sie Anspruch darauf, dass sie keine Gerichtsgebühren zahlen müssen. Armut allein genügt aber nicht. Voraussetzung ist auch, dass die Klage der betreffenden Person nach Einschätzung des Gerichts Aussicht auf Erfolg hat. Braucht es zur Wahrung der Rechte einen Anwalt, so übernimmt der Staat auch diese Kosten (siehe unten). Auch wer einer schweren Straftat beschuldigt wird, erhält auf Staatskosten einen Anwalt zur Seite gestellt, den sogenannten amtlichen Verteidiger.
Was viele nicht wissen: Diese Kosten sind nur vorläufig erlassen: Praktisch sämtliche Deutschschweizer Kantone sehen in ihren Gesetzen vor, dass sie eingefordert werden können, falls sich jemand finanziell erholt. So verlangt der Kanton Bern von Betroffenen eine Nachzahlung, «wenn sie innerhalb von zehn Jahren, von der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, zu hinreichendem Vermögen oder Einkommen» gelangen. Eine Ausnahme bildet der Kanton Basel-Stadt: Nur wer den Prozess gewinnt und dadurch zu genügend Geld kommt, kann zur Zahlung verpflichtet werden.
Nachkontrollen bei den Betroffenen
Fast alle Kantone geben auf Anfrage des K-Tipp an, von Zeit zu Zeit die wirtschaftliche Situation der Betroffenen zu überprüfen. Das ist anhand der Steuerdaten möglich. Für die Mehrheit der Kantone ist massgebend, ob die betroffene Person in der momentanen Lage immer noch Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hätte. Wenn nicht, schicken sie eine Rechnung.
Die Steuerverwaltung des Kantons Bern zum Beispiel prüft jeden Fall einzeln. Sozialhilfebezüger, Personen mit einem Jahreseinkommen von weniger als 30’000 Franken oder ohne Vermögen werden nicht belangt. Im Jahre 2008 seien rund zwei Millionen Franken eingegangen. Bei Verheirateten wird für die Prüfung der finanziellen Lage auch der Lohn des Ehepartners berücksichtigt. Das bestätigt der Aargauer Anwalt und Buchautor Stefan Meichssner («Das Grundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege»). Das ergebe sich aus der ehelichen Beistandspflicht, wonach sich Ehegatten gegenseitig materiell unterstützen müssen.
Die Möglichkeit der Rückforderung ist zeitlich beschränkt. In der Regel gilt eine zehnjährige Frist (AG, BE, BL, BS, LU, SO, TG, UR). Die zehn Jahre gelten auch für Kantone ohne festgelegte Frist (GL, GR, OW, SH, ZG, ZH). Teilweise beträgt die Frist bloss fünf Jahre (AI, NW) oder gar 20 Jahre (AR, SG).
Gratis-Prozess: Wer Anrecht hat
- Anspruch auf einen Gratis-Prozess hat man, wenn die finanziellen Mittel fehlen, um neben dem Lebensunterhalt für sich und die Familie für die Prozesskosten aufzukommen. Zudem muss der Prozess Aussicht auf Erfolg haben.
- Kostenlos sind zudem generell arbeitsrechtliche Verfahren bis zu einem Streitwert von 30’000 Franken, Prozesse im Sozialversicherungsrecht und Schlichtungsverfahren in Mietsachen.
- Die Anwaltkosten übernimmt der Staat nur, wenn jemand wegen schwieriger Rechtsfragen fachkundigen Rat braucht oder wenn der Gegner anwaltlich vertreten ist.