Beim Callcenter der Versandgroup muss jedes Verkaufsgespräch mit diesen Sätzen beginnen: «Sie haben ein Informationsschreiben zum Thema gesunde Ernährung erhalten. Konnten Sie das mal anschauen?» Mit der Wahrheit nimmt es das Unternehmen damit bereits bei Gesprächsbeginn nicht so genau: Vor den Anrufen wird nämlich gar kein Informationsmaterial verschickt.
Mit dem Einstieg will man am Telefon bloss ein positives Klima für das Verkaufsgespräch schaffen und verhindern, dass die überraschten Angerufenen gleich wieder aufhängen.
Das Protokoll des Probetages
Der K-Tipp weiss das aus eigener Anschauung: Ein Redaktor hatte sich nämlich bei der Versandgroup in Zürich für einen Probetag beworben. Die entsprechende «Stelle als Verkaufstalent» war Ende September in einer Zürcher Regionalzeitung ausgeschrieben worden. Hier das Protokoll seines Probetags:
Ein Nein ist ein Ja: Gleich zu Beginn schärft mir Callcenter-Leiter Juan Cortez (Name geändert) ein: «Ein Nein ist für uns ein Ja!» Und: «Es geht nur um eines: verkaufen, verkaufen, verkaufen!»
«Chömed, bliibed dra!», ruft Cortez deshalb immer wieder in den engen, schlecht belüfteten und viel zu warmen Verkaufsraum. Elf Mitarbeiter sitzen an diesem Morgen an weissen Pulten, die auf drei Seiten mit blauen Wänden eingefasst sind (siehe Bild).
Die Verkäufer reden in ihren Boxen wild gestikulierend und mit lauter Stimme auf die Kunden am anderen Ende der Telefonleitung ein. «Jeder Angerufene sagt gleich zu Beginn, er wolle nichts kaufen», weiss Cortez. Er wiederholt: «Ein Nein ist für uns aber ein Ja!» Erst jetzt beginne die eigentliche Verkaufsarbeit.
Tricks kennenlernen: Der Callcenter-Chef hat mich für den Verkauf von Vitafit Omega-3-Plus eingeteilt. Dieses Nahrungsergänzungsmittel besteht vorwiegend aus Fischöl. Dank des hohen Anteils an ungesättigten Fettsäuren soll es gemäss interner Versandgroup-Broschüre auch bei schwersten Erkrankungen helfen. Ich werde von Cortez angewiesen, zuerst bei langjährigen Mitarbeitern des Callcenters mitzuhören, um die Verkaufstricks kennenzulernen. Eine Verkäuferin behauptet gegenüber einer krebskranken Kundin: «Vitafit-Dragees helfen dank der Omega-3-Fettsäuren auch bei dieser schlimmen Krankheit.» Wenig später bearbeitet sie eine Frau, die Blutverdünner benötigt. Ohne Kenntnis der Krankengeschichte erklärt sie: «Vitafit löst das Problem auf natürliche Weise.»
Je kranker, desto besser: Ein anderer erfahrener Mitarbeiter versucht hartnäckig, einer magersüchtigen 20-Jährigen die Pillen anzudrehen. Anschliessend will er die Dragees einer Mutter mit einem körperlich schwer behinderten Kind verkaufen. Obwohl viele dieser Verkaufsgespräche erfolglos verlaufen, gilt unter den Mitarbeitern die Losung: «Je hilfloser und kranker eine Person, desto grösser die Erfolgschancen.»
Unhaltbare Versprechen
Die falschen Gesundheitsversprechen haben sich die Verkäufer nicht selber ausgedacht. Sie sind in den internen Verkaufsunterlagen nachzulesen, die dem K-Tipp vorliegen (siehe Ausriss oben). Darin wird unter anderem behauptet:
- «Vitafit hilft bei Krebs.» Dafür gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg. Präventivmediziner David Fäh von der Uni Zürich: «Diese Behauptung ist schlicht unhaltbar.»
- «Vitafit hilft bei Zuckerkrankheit, reguliert den Cholesterinspiegel und stärkt das Immunsystem.» Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit hat diese Behauptungen als eindeutig falsch bezeichnet.
Nach der morgendlichen Schnellbleiche darf ich am Nachmittag das vermeintliche Wundermittel bereits verkaufen: Callcenter-Leiter Cortez erklärt mir kurz das Adressprogramm und lässt mich dann in meiner Box alleine. Ich drücke mit der Computermaus auf den Button «nächster Kunde». 12 Sekunden später erscheint auf dem Bildschirm eine Adresse, gleichzeitig meldet sich ein älterer Mann aus der Ostschweiz. Stur gemäss Broschüre preise ich die Vorzüge der Pillen an – habe aber weder bei diesem noch bei anderen Kunden Erfolg. Ein Grund dürfte der Preis sein: 229 Franken kostet die Pillenkur für ein halbes Jahr. In der Migros bezahlt man für dieselbe Menge Fischöl-Dragees Fr. 58.80.
Auch andere Callcenter-Mitarbeiter haben kaum Erfolg. Das sehe ich auf dem grossen Flachbildschirm, der unter der Decke hängt und die Bilanz der Verkäufer anfzeigt. Nach total 524 Anrufen sind nur 14 Präparate verkauft worden. «Nur bei 3 von 100 Anrufen verkaufst du etwas», tröstet mich Cortez. Er schreit erneut durch den Raum: «Chömed, bliibed dra!»
Meine Bilanz: Während zwei Stunden habe ich 24 Kunden am Telefon mit fragwürdigen Argumenten eingedeckt. Eigentlich läge der Stundenlohn bei 30 Franken. Bezahlt wird mir aber nur die effektive Zeit, die ich am Telefon verbracht habe – statt 2 Stunden nur 1 Stunde und 21 Minuten. Und: Liegt die durchschnittliche Gesprächsdauer unter zehn Minuten pro Anruf, gibts einen zusätzlichen Abzug. Ich erhalte schliesslich Fr. 14.40 Stundenlohn.
Der K-Tipp konfrontierte die Versandgroup mehrfach schriftlich mit den Vorwürfen. Die Firma hat darauf nicht reagiert.
«Ehrlichkeit und Anstand»
Zur Versandgroup mit Sitz in Lutzenberg AR gehören mehrere Firmen, darunter der Versandhandel Vita Confort Solutions AG in St. Gallen und das Callcenter Telesana in Zürich. Die Versandgroup betreibt in Basel, Buchs SG, Luzern, St. Gallen, Thun und Winterthur weitere Callcenter. Sie beschäftigt nach eigenen Angaben rund 200 Mitarbeiter.
Die Versandgroup vertreibt Gesundheitsartikel, Nahrungsergänzungsmittel und Kosmetika – darunter Produkte wie Vitafit und Phytobiol, aber auch das Matratzenreinigungsmittel Mat-o-clean.
Die Versandgroup ist dem K-Tipp seit Jahren bekannt und steht auf der Warnliste (siehe unter www.ktipp.ch): Regelmässig melden sich Leser, die sich durch die Anrufe belästigt fühlen.
Das Firmenporträt auf der Homepage steht in krassem Widerspruch zu dem, was der K-Tipp vor Ort festgestellt hat. Dort liest man: «Wir wollen das Vertrauen der Kunden dadurch erlangen, indem wir besonderen Wert auf Ehrlichkeit, Anstand und moralisches Verhalten legen.» Oder: «Wir bieten auch während der schwierigen Wirtschaftslage kontinuierlich Arbeitsplätze an und geben verschiedensten Personengruppen die Chance auf eine spannende Arbeit und persönlichen Erfolg. Alles, was es braucht, ist (...) Ehrlichkeit, die Lust zu lernen und ein wenig Mut.»