Ein Unfall ist kein Unfall
Fast 300 000 Sportler verletzen sich in der Schweiz jedes Jahr. Der Volksmund spricht von einem «Unfall», doch aus rechtlicher Sicht sieht die Sache oft anders aus.
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K-Tipp 15/2004
22.09.2004
Thomas Müller - tmueller@ktipp.ch
Am 12. Januar 2000 veränderte sich das Leben von Kurt Düsel radikal. «Ich spielte mit meinen Kollegen der Berufsfeuerwehr Volleyball», erzählt der heute 49-Jährige. «Bei einem Schmetterball geriet ich in Rücklage und landete mit gestrecktem Bein auf dem Boden. Ich verspürte sofort einen stechenden Schmerz im Rücken.»
Mittlerweile ist Düsel, der fast 25 Jahre im Dienst der Feuerwehr von Winterthur ZH stand, als Feuerwehrmann vollständig arbeitsunfähig. «Bei körperlicher Bet...
Am 12. Januar 2000 veränderte sich das Leben von Kurt Düsel radikal. «Ich spielte mit meinen Kollegen der Berufsfeuerwehr Volleyball», erzählt der heute 49-Jährige. «Bei einem Schmetterball geriet ich in Rücklage und landete mit gestrecktem Bein auf dem Boden. Ich verspürte sofort einen stechenden Schmerz im Rücken.»
Mittlerweile ist Düsel, der fast 25 Jahre im Dienst der Feuerwehr von Winterthur ZH stand, als Feuerwehrmann vollständig arbeitsunfähig. «Bei körperlicher Betätigung habe ich schnell Schmerzen in Rücken, Beinen und Armen. Auch lange sitzen kann ich nicht mehr.»
Zu den Schmerzen kam noch der Ärger mit der Unfallversicherung. Die Winterthur teilte ihm mit, sie zahle nichts. Begründung: Die unglückliche Landung sei rechtlich gesehen kein Unfall.
Düsel konnte das nicht glauben und zog den Fall mit Hilfe seines Anwalts bis vor Bundesgericht - vergeblich. Das Gericht hält in seinem Urteil fest, für einen Unfall brauche es laut Gesetz einen «ungewöhnlichen äusseren Faktor», beim Sport also etwas «Programmwidriges», das den natürlichen Bewegungsablauf stört.
Missglückter Salto: Kein Unfall
Diese Voraussetzung sei hier nicht erfüllt, «weil Landungen in überstreckter Rückenlage (Hohlkreuz) beim Volleyball häufig vorkommen». Paradox: Wäre Düsel auf einer feuchten Stelle des Hallenbodens ausgerutscht, hätte die Winterthur nicht kneifen können.
Das Beispiel zeigt: Längst nicht alles, was landläufig als Unfall bezeichnet wird, ist auch im rechtlichen Sinn ein solcher. Das Bundesgericht hat in vielen Fällen das Vorliegen eines Unfalls verneint - mangels eines «ungewöhnlichen» Vorkommnisses:
- Bei einer Lehrtochter, die während des Turnunterrichts einen Rückwärts-Purzelbaum machte und sich dabei im Nacken- und Schulterbereich verletzte. Hier habe sich lediglich «das einer sportlichen Übung inhärente Risiko einer Verletzung verwirklicht», heisst es im Urteil. Ein Unfall hätte laut Gericht etwa dann vorgelegen, wenn die junge Frau «gestürzt oder auf einer wegrutschenden Turnmatte ausgeglitten wäre».
- Bei einem Kunstfluglehrer, der beim Übergang von der vertikalen in die horizontale Fluglage eine Überdehnung der Halswirbelsäule erlitt. Auf dem Flug sei nichts passiert, «was den Rahmen des Alltäglichen sprengt», befand das Gericht.
- Bei einem Jiu-Jitsu-Kämpfer, der unter seinen Gegner geraten war und sich zu befreien versuchte, indem er sich mit dem Kopf am Boden abstützte und den Gegner nach oben drückte. Dabei zog er sich eine Stauchung der Halswirbelsäule zu. Das sei auch deshalb kein Unfall, weil der Gegner weniger als 100 Kilogramm wog, argumentierten die Richter: «Das Heben, Tragen und Verschieben von Lasten von weniger als 100 Kilo stellt an sich nichts Ungewöhnliches dar.»
- Bei einer Turnlehrerin, die eine Rolle vorwärts vorführte und danach Beschwerden im Nackenbereich hatte.
- Bei einer Fallschirmspringerin, die sich an Hals und Nacken verletzte, weil sich der Fallschirm sehr schnell öffnete, wodurch sie abrupt abgebremst wurde.
- Bei einem Turner, der nach einem missglückten Salto von einem Schwedenkasten in der Hocke landete und sich eine Knieverletzung zuzog. «Nicht jede noch so geringfügige Abweichung vom optimalen Ablauf begründet einen Unfall im Rechtssinn», erklärte das Gericht.
- Bei zwei Skifahrern, die sich, ohne zu stürzen, auf einer buckligen Piste die Wirbelsäule gestaucht respektive verdreht hatten.
Interessant auch ein Entscheid des Aargauer Versicherungsgerichts zum Thema Mountain-Bike. Ein 40-jähriger Mann hatte beim Überfahren eines von Laub bedeckten Astes zwei heftige Schläge in den Rücken erlitten. «Kein Unfall», sagten die Richter. Schwer sichtbare Unebenheiten wie Steine, Wurzeln und Äste seien im Wald nichts Ungewöhnliches.
Verletzung nach Bodycheck ist Unfall
«Wäre der Velofahrer hingegen beim Überfahren des Astes gestürzt, hätte das Gericht einen Unfall mit grösster Wahrscheinlichkeit bejaht», erklärt Franz Erni, Leiter der Rechtsabteilung der Unfallversicherung Suva. Grund: Stürze beeinflussen den natürlichen Bewegungsablauf «programmwidrig». Das gilt auch für Zusammenstösse.
Deshalb hat das Bundesgericht Verletzungen nach Zweikämpfen in Mannschafts-Sportarten immer wieder als Unfälle taxiert, etwa
- bei einem Amateurfussballer, der sich das Knie verdrehte, als ihm ein Gegenspieler in die Beine grätschte;
- bei einem Eishockeyspieler, der wegen eines Bodychecks in die Bande prallte und sich eine Schulterverletzung zuzog;
- bei einer Handballerin, der eine Gegenspielerin von hinten in den Arm griff, um sie am Werfen zu hindern.
Auf Messers Schneide stand der Fall eines Skifahrers, der auf einer vereisten Stelle ausgeglitten war, unkontrolliert den nächsten Buckel anfuhr, abgehoben wurde und mit verdrehtem Oberkörper hart auf dem Boden aufschlug, ohne zu stürzen. Das Ausrutschen auf Eis sei ein «Grenzfall» einer Programmwidrigkeit, hielt das Gericht fest. Dem Skifahrer dürfte es egal gewesen sein: Seine Unfallversicherung musste zahlen.
Sportverletzungen: Unfallversicherte fahren besser
Ob die Unfallversicherung oder die Krankenkasse für eine Verletzung zahlt, ist nicht egal: Die Leistungen der Unfallversicherung sind wesentlich besser.
- Hausfrauen, Studenten, Kinder, Jugendliche, Rentner, Selbständigerwerbende und Arbeitslose sind bei ihrer Krankenkasse obligatorisch gegen Unfall versichert, falls sie nicht selber eine solche Versicherung abgeschlossen haben.
- Wer mindestens acht Stunden pro Woche beim gleichen Arbeitgeber arbeitet, ist über die Unfallversicherung des Betriebs auch für Freizeitunfälle versichert. Liegt rechtlich gesehen kein Unfall vor (siehe Artikel), kommt die Krankenkasse zum Zug.
- Achtung: Im Gegensatz zur Unfallversicherung übernimmt die Krankenkasse nur die Heilungskosten und verlangt vom Versicherten erst noch Franchise und Selbstbehalt. Sie bezahlt auch keine Taggelder für den kurzfristigen Erwerbsausfall und keine Rente im Invaliditätsfall.
- Gewisse Verletzungen gelten auch dann als Unfall, wenn sie ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung entstehen. Es sind dies: Knochenbrüche, Gelenkverrenkungen, Meniskusrisse, Muskelrisse und -zerrungen, Sehnenrisse und Bänderverletzungen. Nur wenn eine solche Verletzung eindeutig auf eine Erkrankung oder Degeneration zurückzuführen ist, muss die Unfallversicherung nicht zahlen.
- Ist strittig, ob ein Unfall vorliegt oder nicht, so ist die Krankenkasse vorleistungspflichtig. Das heisst, dass die Kasse so lang zahlen muss, bis klar ist, welche Versicherung die Kosten endgültig übernimmt.
- In solchen Fällen ist es ratsam, sich an einen spezialisierten Anwalt oder eine Beratungsstelle zu wenden - etwa an die Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten (Telefon 0800 70 72 77, www.rechtsberatung-up.ch).
- Generell gilt: Um finanzielle Einbussen nach einem Unfall zu vermeiden, lässt sich die Invalidenrente bei der Pensionskasse überobligatorisch versichern. Fragen Sie bei Ihrem Arbeitgeber nach.