Viele Kunden wählen Strom aus erneuerbaren Quellen. Sie gehen davon aus, dass ihr Versorger Strom aus Wasserkraft oder Sonnenenergie liefert – und zahlen dafür einen Zuschlag. Bei den St. Galler Stadtwerken zum Beispiel kostet reiner Ökostrom für einen Vier-Personen-Haushalt fast 100 Franken mehr pro Jahr als ein Mix mit Atomstrom.
Einige Versorger haben für Privatkunden nur noch Ökostrom im Angebot – zum Beispiel die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ). Sie versprechen auf ihrer Website, ihr Strom werde «zu 100% aus erneuerbaren Ressourcen hergestellt». Gemäss eigenen Angaben stammen 93 Prozent des EKZ-Stroms aus dem internationalen Handel. Und dieser Strom setzt sich laut den Berechnungen des Technologieunternehmens Aliunid in Brugg AG nur gut zur Hälfte aus erneuerbaren Quellen zusammen – und 40 Prozent der Energie stammen aus der Atomkraft und ausländischen Kohlekraftwerken. Von «100% erneuerbar» also keine Spur.
Möglich machen das fragwürdige Herkunftsnachweise. Das sind Zertifikate, die Schweizer und ausländische Stromproduzenten für jede produzierte Kilowattstunde Strom ausstellen. Sie besagen, wo und wie der Strom gewonnen wurde.
Das Schweizer Gesetz verlangt: Die Unternehmen müssen für jede verkaufte Kilowattstunde einen Herkunftsnachweis hinterlegen. Die Stromversorger können aber die Herkunftsnachweise unabhängig vom physischen Strom einkaufen. So lässt sich auch eingekaufter Atomstrom als Ökostrom verkaufen. Der Versorger muss bloss ein Wasserkraftzertifikat über dieselbe Menge Strom erwerben. So kann er den Strom umetikettieren. Ein legaler Trick.
Atomstrom wird «grün gewaschen»
Der Geschäftsführer der Schweizerischen Energie-Stiftung, Nils Epprecht, kritisiert diese Praxis: «Viele Kunden meinen, sie würden inländischen Strom aus erneuerbaren Energien beziehen. Aber de facto kaufen sie auch Atom- oder Kohlestrom, der mit ausländischen Wasserkraftnachweisen veredelt wird.» Diese Nachweise würden dazu missbraucht, die Stromproduktion «grün zu waschen», sagt Epprecht.
Neben den EKZ verkaufen auch mehrere andere städtische und kantonale Elektrizitätsunternehmen ausschliesslich Strom aus angeblich erneuerbaren Quellen. Zahlen des Bundesamts für Energie zeigen: Die Schweizer Versorger verkaufen insgesamt rund einen Viertel mehr erneuerbaren Strom, als sie selbst produzieren. Möglich machen dies die Herkunftsnachweise.
«100 % Naturstrom» aus dem AKW Gösgen
Die EKZ weisen gegenüber dem K-Tipp die «Kritik des Greenwashings entschieden zurück». Der Markt für physischen Strom sei von dem der Herkunftsnachweise getrennt: «Strom als Produkt lässt sich nicht mit physischen Produkten vergleichen.»
Das Unternehmen kaufte im vergangenen Jahr rund 70 Prozent der Herkunftsnachweise in weit entfernten Ländern wie Norwegen, Serbien, Lettland oder Island ein. Von Island aber gelangt real gar kein Strom in die Schweiz. Von dort führt nicht einmal eine Stromleitung nach Europa.
Isländische Wasserkraftzertifikate durften seit dem Frühling nicht mehr gehandelt werden, weil sie ins Ausland verkauft wurden und der Strom zugleich der isländischen Ökobilanz angerechnet wurde. Dieser Verdacht besteht laut einem Rechtsgutachten auch bei Norwegen, schrieb die Wochenzeitung «Die Zeit» im August. Norwegen ist das wichtigste Herkunftsland von Wasserkraftnachweisen.
Auch die folgenden Stromunternehmen versprechen, 100 Prozent erneuerbaren Strom zu verkaufen (Zahlen aus dem Jahr 2022):
- Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) produziert in den eigenen Energiewerken deutlich weniger erneuerbaren Strom, als es den Privatkunden liefert. Mehr als die Hälfte seiner Produktion stammt aus dem Kernkraftwerk Gösgen. Den Atomstrom verkauft das EWZ als «100% Naturstrom».
- Energie Wasser Luzern kauft 15 Prozent des Stroms im Handel ein, 85 Prozent produziert der Stromversorger in eigenen Anlagen. Der Handelsstrom enthält auch Strom aus Atom- und Kohlekraftwerken.
- Die Industriellen Werke Basel kaufen 23 Prozent des Stroms im Handel ein. Den Rest produzieren sie selbst.
Die erwähnten Stromversorger erreichten nur dank ausländischen Zertifikaten die Quote von 100 Prozent erneuerbarem Strom. Die EKZ zum Beispiel sagen, mit dem Kauf von Herkunftsnachweisen würden sie die Hersteller von erneuerbaren Energien unterstützen.
Doch laut mehreren Experten sind die Herkunftsnachweise dafür viel zu günstig. Das liegt auch daran, dass es europaweit ein Überangebot an Nachweisen gibt, weil diese in vielen Ländern nicht verlangt werden. Die Zertifikate für den dort hergestellten Ökostrom werden dann gewinnbringend ins Ausland verkauft.
Die Eidgenössische Elektrizitätskommission Elcomkritisiert den Handel mit Herkunftsnachweisen: Diese würden eine «unnötige Zusatzbelastung» für die Konsumenten darstellen.
Klar ist: Das verwirrende System mit dem Handel mit Zertifikaten verursacht den Stromversorgern zusätzliche Kosten, die sie schliesslich auf die Konsumenten abwälzen.
Tipp: Wer umweltfreundlichen Strom möchte, kann ein Produkt mit dem Label «Nature Made Star» wählen. Damit werden umweltfreundliche Wasser- oder Solaranlagen in der Schweiz unterstützt.
Ein Viertel des Stroms wird grün gewaschen
Im Stromnetz fliesst nicht nur inländischer Strom, sondern auch Importstrom – darunter Kohlestrom aus Deutschland und Atomstrom aus Frankreich. Das Brugger Techunternehmen Aliunid hat die Zusammensetzung des in der Schweiz verbrauchten Stroms aktuell untersucht und kommt zu einem ähnlichen Resultat wie die Universität Genf im Jahr 2021:
- Der Strom, der aufgrund von Herkunftszertifikaten verkauft wird, ist sauberer als der tatsächlich verbrauchte Strom.
- Rund ein Zehntel des Stroms, den Schweizer Kunden verbrauchen, stammt aus fossilen und ein Drittel aus atomaren Quellen.