Morten Keller, was für Menschen bringt die Polizei ins «Hotel Suff»?
Neun von zehn sind junge Männer. Die einen sind angeheitert und enthemmt. Andere verhalten sich aggressiv. Sie schimpfen und schreien. Ich habe schon erlebt, dass ein stark Betrunkener mit den Beinen und mit dem Kopf gegen die Zellentür schlug. Andere verschmieren die Zelle mit Exkrementen.
Warum machen sie das?
Aus Trotz.
Dass Leute im «Hotel Suff» ausrasten, erstaunt nicht. Rechtsanwälte kritisieren: Sie sperren viele Leute ohne zwingenden Grund ein.
Das kam vielleicht zu Beginn gelegentlich vor, als die Polizei noch nicht genügend Erfahrung hatte, um zu beurteilen, welche Personen in die Ausnüchterungsstelle gehören. Aber heute bin ich überzeugt: Zu uns kommen nur Personen, denen man nicht anders helfen kann. Das sind einerseits Menschen, die wegen des Alkohols sehr müde werden, sich auf eine Parkbank legen und Gefahr laufen, zu erfrieren. Andere kommen zu uns, weil sie unter Alkoholeinfluss andere Personen bedroht oder angegriffen haben.
Das ist umstritten. Ein 28-Jähriger klagte, er sei ins «Hotel Suff» gebracht worden, obwohl es weder einen Streit noch eine Schlägerei gegeben habe.
Man müsste auch die Polizei und Zeugen anhören, um zu wissen, ob die Einweisung rechtmässig war.
Die Polizei bestätigte später, dass es keine Schlägerei gab. Und der Statthalter entschied, dass der junge Mann die Gebühr von 950 Franken nicht zahlen muss.
Ich kenne die Details dieses Falls nicht.
Fachleute sagen: Betrunkene sollte man nicht einsperren. Freunde oder Angehörige könnten sich um sie kümmern.
Da muss ich schmunzeln. Die Realität ist eine andere: Wenn einer im Ausgang abstürzt, lassen ihn seine Kollegen oft liegen. Sie telefonieren der Sanität und ziehen weiter. Manche Menschen verhalten sich leider sehr egoistisch.
Wurden Sie schon einmal von betrunkenen Insassen angegriffen?
Ich nicht, aber andere Ärzte und Sicherheitspersonal schon. Wir versuchen, unser Personal durch Schulungen vor körperlicher Gewalt zu schützen. Bei den einzelnen Attacken blieb es bis jetzt zum Glück bei Bagatellverletzungen wie Blutungen oder Rissquetschwunden.
Ist es hart, in einem nicht ungefährlichen Umfeld als Arzt zu arbeiten?
Ja. Als ich zum ersten Mal sah, wie aggressiv sich manche Betrunkene verhalten, wirkte das auf mich sehr dramatisch und bewegend. Ich dachte: Gopfridli, wie ist so etwas möglich? Inzwischen habe ich eine andere Einstellung. Räusche gehören nun mal zum Leben.
Zur Person: Morten Keller
Der 50-jährige Morten Keller ist Chefarzt des Stadtärztlichen Dienstes und Leiter der Zentralen Ausnüchterungsstelle in Zürich. Zuvor arbeitete er als Rechtsmediziner und Psychiater. Morten Keller ist verheiratet und wohnt in St. Gallen.