Esther Müller (Name geändert) aus dem sanktgallischen Rheintal ist IV-Rentnerin. Ihre Rente von 2340 Franken deckt den Lebensunterhalt nicht. Deshalb bezieht sie Ergänzungsleistungen (EL) von 690 Franken pro Monat. Damit gilt sie im Sinne des Gesetzes als «bedürftig». Trotzdem muss sie ihre IV-Rente versteuern.
Stossend: Sie zahlt sogar mehr Steuern als Bekannte, die eine tiefere IV-Rente haben und mehr Ergänzungsleistungen beziehen. Grund: Die Rente muss versteuert werden, die Ergänzungsleistungen jedoch nicht.
Esther Müller ärgert sich über diese Ungerechtigkeit: «Jene Rentner, die weniger lang in die IV eingezahlt haben als ich und deshalb eine kleinere Rente erhalten, haben unter dem Strich – nach Abzug der Steuern – mehr zum Leben!»
Ungerechter Schwelleneffekt
Fachleute sprechen vom Schwelleneffekt. Beispiel: Ein Rentner, der pro Monat 1500 Franken Rente bezieht und 500 Franken Ergänzungsleistungen, zahlt mehr Steuern als ein Rentner mit 1000 Franken Rente und 1000 Franken Ergänzungsleistungen.
Das Problem betrifft auch viele AHV-Rentner. Das bestätigt Pro Senectute aus der Erfahrung in den Sozialberatungen.
Rund 43 Prozent der IV-Bezüger und 12 Prozent der AHV-Rentner beziehen Ergänzungsleistungen. Betroffen sind auch Leute, die zwar arm sind, aber zu wenig arm für den Bezug von Ergänzungsleistungen: «Bei Älteren, die knapp keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben, reicht nach dem Zahlen der Steuern das Geld oft nicht, um Essen, Kleider und Wohnung zu bezahlen», sagt SP-Nationalrätin Bea Heim. Sie hat den Bundesrat bereits vor fünf Jahren mit einem parlamentarischen Vorstoss aufgefordert, das Problem zu lösen. Ohne Erfolg: Der Bundesrat räumte zwar ein, dass Ergänzungsleistungsbezüger bessergestellt seien als Steuerpflichtige mit niedrigen Einkommen. Es sei aber Sache der Kantone, nach Lösungen zu suchen.
Experten und Interessenverbände wie die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe und Pro Senectute fordern seit langem die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Denn damit liesse sich das Problem des Schwelleneffekts lösen. Konkret hätte sie zur Folge, dass Bezüger von Ergänzungsleistungen grundsätzlich nicht mehr steuerpflichtig wären.
Das Bundesgericht entschied im Jahr 1996 jedoch, es bestehe kein Anrecht auf Steuerbefreiung fürs Existenzminimum. Zwar dürfe gemäss Verfassung das Recht auf Existenzsicherung nicht verletzt werden – auch nicht durch Steuern. Aber der Gesetzgeber könne dieser Anforderung auch mit Freibeträgen, Abzügen oder Steuererlassen entsprechen.
In die gleiche Kerbe schlägt das Bundesamt für Sozialversicherungen: «Die Steuerbefreiung des Existenzminimums ist heute weder beim Bund noch in den Kantonen explizit vorgeschrieben», sagt Sprecherin Elisabeth Hostettler.
Steuersystem setzt Fehlanreize
Die Schwelleneffekte sind nicht nur ungerecht. Sie setzen auch Fehlanreize: Belohnt wird, wer sich frühpensionieren lässt und absichtlich verarmt. Denn: Je früher jemand in Pension geht, desto kleiner die AHV-Rente. Und je tiefer die Einkünfte und das Vermögen, desto höher die steuerfreien Ergänzungsleistungen.
Monika Bütler, Professorin an der Universität St. Gallen, sagt dazu: «Das System benachteiligt Sparer und solche, die erst später in Rente gehen.»