Viele der 30 Testteilnehmer waren schockiert, als sie die Resultate ihrer Urinuntersuchungen erfuhren: Das Labor fand in allen Proben massenweise Rückstände von Pestiziden. Selbst bei Teilnehmern, die sich biologisch ernähren, fanden sich bis zu zwölf Rückstände riskanter Substanzen im Körper.
Mit einer Urinanalyse lässt sich nachweisen, welche Schadstoffe der Körper aufgenommen hat. Zwei Labors untersuchten für den «Gesundheitstipp» den Urin von 30 Frauen, Männern und Kindern auf Rückstände von rund 60 Pestiziden («Gesundheitstipp» 5/2020). Die Hälfte ernährte sich in der Woche vor der Urinabgabe von konventionell produzierten Lebensmitteln, die andere Hälfte überwiegend von Bio-Produkten.
Ergebnis: Die Teilnehmer – darunter auch ein Kleinkind – hatten regelrechte Pestizidcocktails im Urin. Viele stammten von Stoffen, die in der Schweiz und der Europäischen Union (EU) verboten sind. Dazu kamen Substanzen, die zwar zugelassen, aber nicht ungefährlich sind. Sie stehen laut EU im Verdacht, bei Menschen Krebs, genetische Defekte oder bei längerer Belastung Organschäden zu verursachen. Bei mehreren Pestiziden sind die schädlichen Auswirkungen bereits belegt.
Riskantes Insektizid bei allen gefunden
In allen Proben fanden sich Rückstände von Chlorpyrifos. Das Insektizid schädigt bereits in geringen Mengen das Gehirn von Neugeborenen. In der EU ist der Stoff verboten, in der Schweiz noch bis Ende Juni 2020 erlaubt. Jede dritte Testperson hatte zudem das umstrittene Herbizid Glyphosat im Körper.
Die Ergebnisse der Stichprobe zeigen allerdings nur die Spitze des Eisbergs: Die Proben wurden auf Rückstände von rund 60 Pestiziden untersucht – in der EU-Datenbank sind aber über 1400 solche Gifte registriert. Man muss also davon ausgehen, dass die Teilnehmer mit noch mehr Pestiziden belastet waren.
Grenzwerte nur für einzelne Pestizide
Die Lebensmittelgesetzgebung der Schweiz hält fest, dass Pestizidrückstände keine schädlichen Wirkungen auf Menschen haben dürfen – weder einzeln noch in Kombination. Trinkwasser darf nicht mehr als 0,5 Mikrogramm Pestizide pro Liter aufweisen. Aber für Lebensmittel existiert kein solcher Grenzwert. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit legt nur für die einzelnen Pestizide Grenzwerte fest. Das bedeutet: Ein Lebensmittel kann eine beliebig grosse Menge Pestizide enthalten – solange die einzelnen Gifte den für sie geltenden Grenzwert nicht überschreiten.
«Die Menschen sind konstant einer zu hohen Gesamtmenge an Chemikalien ausgesetzt», warnt Joëlle Rüegg, Professorin an der schwedischen Universität Uppsala. «Das ist gefährlich, da viele dieser Substanzen für den Körper schädlich sind.»
Laut Rüegg werden für die Festlegung der einzelnen Grenzwerte «veraltete Testmethoden» angewendet. «So werden viele Effekte übersehen, die nicht akut toxisch sind.» Die Forscherin nennt als Beispiel Auswirkungen auf Föten und Kleinkinder, die sich erst im späteren Leben zeigten – wie etwa eine geringere Intelligenz. Für Rüegg braucht es deshalb dringend einen Grenzwert für das Total aller Pestizide in Lebensmitteln: «Das ist das Minimum, um die Bevölkerung zu schützen.»
Auch Mediziner befürworten einen Summengrenzwert. Martin Forter von den Ärzten für Umweltschutz bezeichnet die Pestizidgemische im Körper als «unberechenbar». Seine Organisation hat wenig Vertrauen in die Zulassungsbehörden.
Forter kritisiert: «Ganze Generationen von Pestiziden wurden bewilligt – und später wieder verboten, weil sie für die Gesundheit der Menschen viel zu gefährlich waren.» Das zeige, dass die Schweizer Behörden oft zu wenig über die Gefahren von Pestiziden wüssten. Auch erwarteten Konsumenten in Lebensmitteln keine Pestizide, die in der Schweiz verboten sind. «Man muss den Verkauf solcher Produkte stoppen.»
Grenzwerte nach Wunsch der Industrie
Alexandra Gavilano ist Umweltwissenschafterin bei Greenpeace. Sie bemängelt vor allem die geltende Verordnung. Darin steht, dass das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit die Höchstkonzentrationen für Pestizide regelmässig «dem Recht der wichtigsten Handelspartner der Schweiz anpasst». Einzelne Grenzwerte würden damit den Bedürfnissen der Industrie angepasst. Alexandra Gavilano stellt fest: «Damit schützt die Schweiz nicht die Konsumenten und die Umwelt, sondern die Interessen der Pestizidproduzenten.»
Gleicher Meinung ist Marcel Liner von Pro Natura: «Der Bund muss einen Summenhöchstwert für Pestizide schon allein zum vorsorglichen Schutz der Schweizer Bevölkerung dringend einführen.» Lebensmittel und Trinkwasser müssten so weit wie möglich pestizidfrei sein. Liner: «Die Ergebnisse der Urinstichprobe zeigen aber, dass wir davon noch weit entfernt sind.»
Auch Politiker wollen handeln
Handlungsbedarf sehen auch einige Politiker. SP-Ständerat Christian Levrat fordert einen Summenhöchstwert für Lebensmittel. Bund und Kantone hätten das Thema Pestizidrisiko zu lange vernachlässigt: «Die Situation muss so schnell wie möglich korrigiert werden.» Für die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel ist klar: «Wenn für das Trinkwasser ein Summenhöchstwert gilt, sollte dies auch für Lebensmittel möglich sein.»
Ganz anders sieht es das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit: «Nach aktuellem Kenntnisstand geht man von keiner Gesundheitsgefährdung durch Mehrfachrückstände von Pestiziden aus.» Zur Frage, ob die Schweizer Bevölkerung vor schädlichen Wirkungen durch Pestizidrückstände geschützt sei, lieferte das Bundesamt keine Antwort.
Die Reaktionen von Teilnehmern der Urinstichprobe
«Die Resultate sind beunruhigend. Und ich denke, dass wir über Pestizide nur mangelhaft informiert werden.»
L. A. (34), Yverdon-les-Bains VD
«Ich bin schockiert. Ich esse zu Hause fast nur Bio, rauche nicht, benutze natürliche Kosmetik und trinke praktisch nie Alkohol – und jetzt das! Ich kann mir das Ergebnis nicht erklären. Ich wohne in einem alten Haus neben einem grossen Stadtfriedhof und einer Gärtnerei – vielleicht hat das einen Einfluss.»
C. B. (41), St. Gallen
«Ich hatte bei vier Pestiziden die höchsten Rückstände aller Testpersonen. Das erstaunt mich. Ich habe in der Woche zuvor auf eine gesunde Ernährung geachtet. In meinem Garten setze ich zum Schutz der Insekten keinerlei Pestizide ein. Allerdings wohne ich inmitten einer Landwirtschaftszone.»
G. L. (47), Schaffhausen
«Die Belastung der Bevölkerung scheint die Politiker nicht zu interessieren, sonst wären gewisse Substanzen schon lange verboten.»
C. C. (37), Chur
«Ich ass bei meiner Grossmutter vor dem Test eine ganze Woche lang nur Bio-Produkte. Trotzdem hatte ich viele Pestizide in mir. Aber vielleicht wäre es ohne Bio noch schlimmer gewesen.»
S. R. (12), Zürich
«Ich esse in der Regel Bio-Produkte und bin Vegetarier. Die Bevölkerung sollte über die Pestizidbelastung in konventionellen Lebensmitteln Bescheid wissen. Der Bund muss Bio-Produkte stärker fördern und für alle erschwinglich machen.»
E. B. (57), Pratteln BL