Geheime Gutachten gegen Geschädigte
Patientendaten stehen unter strengem Schutz. Doch bei Gutachten wollen Versicherungen und einige Ärzte nichts vom Datenschutz wissen. Nun stehen sie vor Gericht.
Inhalt
K-Tipp 19/2005
16.11.2005
Ernst Meierhofer - ernst.meierhofer@ktipp.ch
Die Verhandlung findet am 1. Dezember statt. Die Angeklagten sind aufgefordert, vor der Einzelrichterin im Gerichtshaus St. Gallen zu erscheinen.
Angeschuldigt sind der Medizinprofessor William Castro vom orthopädischen Forschungsinstitut im deutschen Münster sowie zwei Mitarbeiter der Winterthur Versicherung - und zwar wegen Verletzung des ärztlichen Berufsgeheimnisses und Widerhandlung gegen das Datenschutzgesetz. Die Anklage fordert Bussen zwischen 20...
Die Verhandlung findet am 1. Dezember statt. Die Angeklagten sind aufgefordert, vor der Einzelrichterin im Gerichtshaus St. Gallen zu erscheinen.
Angeschuldigt sind der Medizinprofessor William Castro vom orthopädischen Forschungsinstitut im deutschen Münster sowie zwei Mitarbeiter der Winterthur Versicherung - und zwar wegen Verletzung des ärztlichen Berufsgeheimnisses und Widerhandlung gegen das Datenschutzgesetz. Die Anklage fordert Bussen zwischen 2000 und 4000 Franken.
Angefangen hat es mit einem Autounfall. Reto Künzle (Name geändert) wurde als Beifahrer in einem Lieferwagen von einer Autofahrerin von hinten gerammt und leidet seither an einem Schleudertrauma. Die Suva zahlt ihm eine Rente, weil er nur noch zu rund 70 Prozent erwerbsfähig ist.
Die Suva hat aber das Recht, dieses Geld via den so genannten Regress bei der Haftpflichtversicherung der Unfallverursacherin einzutreiben - und das ist die Winterthur. Aus diesem Grund durfte die Suva der Winterthur die gesamten medizinischen Akten (Unfallrapporte, Arztzeugnisse, Spitalberichte, radiologische Befunde usw.) schicken.
Hinter dem Rücken des Opfers
Die Winterthur wollte jedoch nicht unbesehen zahlen, sondern schickte die Suva-Akten an den Schleudertrauma-Spezialisten Castro und bestellte bei ihm ein Gutachten. Castro sollte abklären, ob allenfalls zwei frühere Unfälle von Reto Künzle mehrheitlich an den jetzigen Beschwerden schuld seien. Wenn dem so wäre, könnte die Winterthur die Regresszahlung an die Suva in diesem Fall verweigern.
Der springende Punkt: Die jetzt angeklagten Winterthur-Mitarbeiter verschickten die Suva-Akten und bestellten das Gutachten hinter dem Rücken des Unfallopfers und seines Anwalts - ohne Einwilligung, ohne Information. Und sie leiteten das fertige Gutachten direkt an die Suva weiter. Deswegen ist auch Gutachter Castro angeklagt: Er hatte nicht nachfragt, ob eine Einwilligung des Patienten vorlag.
Für Unfallopfer ist dieses heimliche Vorgehen mehrfach nachteilig:
1. Die Wahl eines möglichst objektiven Gutachters ist für den Geschädigten entscheidend. Viele Gutachter sind für ihre versicherungsfreundliche Grundeinstellung - gerade gegenüber dem medizinisch schwer fassbaren Schleudertrauma - bekannt. Kann der Patient bei der Wahl nicht mitreden, werden sich Versicherungen noch so gerne für denjenigen Gutachter entscheiden, von dem sie annehmen dürfen, dass er in ihrem Sinn «urteilt».
«Winterthur hält sich nicht an Vorgaben»
Das war bei Castro der Fall. Er bestätigt im Gutachten seine in der Branche bekannte Meinung, dass «eine unfallbedingte Distorsion der Halswirbelsäule in der Regel innerhalb des ersten Jahres nach dem Unfall ausheilt» - und deswegen sei auch bei Reto Künzle ein Schleudertrauma «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschliessen».
2. «Heimliche» Gutachten sind immer Aktengutachten, der Experte sieht nur die Unterlagen, aber nicht den Patienten. Solche Beurteilungen sind in der Regel wenig fundiert.
3. Der Geschädigte kann zum Gutachten keine Stellung nehmen.
4. Das Wichtigste ist aber: Fällt das Gutachten für die Versicherung positiv aus (wie im Fall Künzle), wird sie es gerne ins Feld führen, um das Zahlungsbegehren abzuschmettern. Fällt es jedoch zu Gunsten des Versicherten aus, sodass die Versicherung in der Pflicht steht, kann die Versicherung das «negative» Gutachten einfach in der Schublade versenken.
Was den Betroffenen Reto Künzle und seinen Anwalt besonders nervt: In der Zwischenzeit hat der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte in einem Merkblatt empfohlen, in solchen Fällen die Patienten über die Einholung eines Gutachtens zu informieren. Die Winterthur lässt das aber kalt. In einem internen Papier vom Februar 2004 heisst es: «Die Winterthur hält sich nicht an die Vorgaben des Merkblattes.» Auch der Versicherungsverband lehne sie ab.
Die Winterthur nimmt zum laufenden Verfahren keine Stellung. Sie schreibt aber dem K-Tipp: «Sie können davon ausgehen, dass Mitarbeiter der Winterthur vorher abklären, ob ihre Handlungen rechtens sind.»
Damit müssen nun die Gerichte entscheiden, ob Aktengutachten durch Aussenstehende ohne Einwilligung des Betroffenen legal sind oder den Datenschutz verletzen. Der Ausgang ist ungewiss: Zwei Rechtsprofessoren vertreten in ihren Expertisen zum Thema diametral entgegengesetzte Meinungen.
Sicher ist nur: Die auf die Vertretung von Unfallopfern und Geschädigten spezialisierten Anwälte wollen mit ihren Klagen erreichen, dass der Sachverhalt gerichtlich geklärt wird. Deshalb sind auch andernorts Verfahren hängig.
Gutachten gegen die eigene Patientin
In Zürich zum Beispiel läuft seit dem 20. Oktober eine Strafuntersuchung gegen Professor Bogdan Radanov vom Schmerzzentrum der Zürcher Schulthess-Klinik. Er soll über eine Patientin, die zu ihm für eine medizinische Behandlung gekommen war, ohne ihr Wissen ein Gutachten für die La-Suisse-Versicherung angefertigt haben. Radanov will dazu keine Stellung nehmen.
In Bern stehen Anfang Dezember eine Ärztin und Angestellte der Allianz-Versicherung vor Gericht. Klägerin ist eine Frau, die von einem Autofahrer gerammt wurde, der bei der Allianz haftpflichtversichert ist. Die Frau bezieht zwar schon eine Rente der Suva und der staatlichen Invalidenversicherung IV - trotzdem hat die Allianz ihre medizinischen Akten einer externen Ärztin zur Beurteilung vorgelegt. Die Patientin wurde über die Bestellung des Gutachtens nicht informiert.
Unbedingt einen spezialisierten Anwalt suchen!
Für Unfallopfer und Geschädigte ist es wichtig, dass sie von einem spezialisierten Anwalt oder einer spezialisierten Anwältin vertreten werden. Diese können beispielsweise bei der Wahl des Gutachters helfen und über den richtigen Umgang mit Gutachtern aufklären.
Eine gute Anlaufstelle ist dafür die Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patienten, Werdstrasse 36, 8004 Zürich, Tel. 0800 707 277 (gratis), www.rechtsberatung-up.ch.
Derzeit sind etwa 50 Juristinnen und Juristen aus den Regionen Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich in der Beratung aktiv. Die meisten von ihnen sind Anwälte, die schwergewichtig im Haftpflicht- und Sozialversicherungsrecht arbeiten. Die Beraterinnen und Berater informieren Sie, welche Versicherungsleistungen Ihnen zustehen. Sie prüfen, ob weitere medizinische Abklärungen nötig sind. Sie begutachten Entschädigungsangebote von Versicherungen. Sie zeigen Ihnen, wie Sie zu Ihrem Recht kommen, und vermitteln Ihnen auf Wunsch kompetente Anwältinnen und Anwälte in der ganzen Deutschschweiz.
Das Sekretariat reserviert Ihnen einen Beratungstermin. Für eine Beratung von rund 45 Minuten werden Ihnen 80 Franken verrechnet.