Die über 90-jährige Petra Mosbacher (Name geändert) freut sich riesig, wenn ihre Tochter sie besucht. Mosbacher wohnt in einem Altersheim in Appenzell Ausserrhoden. Doch seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ist vieles anders: Die Seniorin kann ihre Tochter bestenfalls an einem sterilen Ort sehen, umgeben von Plexiglaswänden und immer mit Mundschutz. Ihre Tochter umarmen darf sie nicht.
In vielen Heimen gelten immer noch strikte Besuchsregelungen – obwohl die Bewohner bereits die zweite Impfung erhalten haben. Auch Petra Mosbacher liess sich in der Hoffnung impfen, dass sie endlich wieder ein normaleres Leben führen kann. Doch das blieb Wunschdenken.
Strikte Regeln trotz Impfung
Die kantonalen Behörden, welche die Schutzmassnahmen erliessen, tun sich mit der Öffnung schwer. Sie machen den Heimen teils rigorose Vorschriften. So sind etwa die Altersheime im Kanton Solothurn angehalten, eine «maximale Besuchsdauer sowie -frequenz» festzulegen. Der Kanton schreibt zurzeit vor, dass Bewohner beim Besuch von Angehörigen «Abstand halten» müssen – trotz Impfung.
Auch im Kanton Luzern bestehen die Behörden bei Besuchen nach wie vor auf die Einhaltung der Masken- und Abstandspflicht – trotz erfolgter Impfung. Bewohner dürfen maximal zwei enge Bezugspersonen pro Tag sehen. An Weihnachten wollte die Luzerner Behörde sogar allen Bewohnern, welche das Fest bei ihren Angehörigen zu Hause feierten, bei Wiedereintritt ins Heim eine 10-tägige Quarantäne verordnen. Erst als Angehörige und Verbände heftig protestierten, lenkte der Kanton ein.
Der Kanton Tessin verhängte dieses Jahr für alle Heime flächendeckend ein dreiwöchiges Besuchsverbot. Seit dem 7. Februar sind Besuche zwar wieder möglich, aber höchstens für 45 Minuten. Es gilt ein generelles Urlaubsverbot – auch hier trotz Impfung.
In Zürich stehen 1000 Betten leer
Die rigorosen Massnahmen stossen auf Kritik. Werner Widmer ist Experte für Spitalmanagement und Co-Autor des Buchs «Corona in der Schweiz». Er gibt zu bedenken: In Schweizer Heimen sterben jeden Monat 2500 Menschen unter ganz normalen Umständen, ohne Covid-Ansteckung. Zurzeit müssten viele einsam sterben, fast ohne Kontakt zu ihren Angehörigen.
Es erstaunt unter diesen Umständen nicht, dass viele Betagte nicht mehr in ein Heim zügeln wollen. Tage- oder gar wochenlang im Zimmer eingesperrt zu sein, ohne Kontakt zu Kindern, Enkeln und Freunden, höchstens kurze Besuche in Spitalatmosphäre: Das schreckt die meisten ab. Die Folge: Etliche Heime – vor allem in städtischen Regionen – leeren sich spürbar. Der Kanton Genf zählt aktuell 210 leere Betten, im Kanton Solothurn sind es ebenfalls 200. Und im Raum Zürich stehen geschätzte 1000 Betten leer.
«Das hatten wir noch nie», sagt Martin Summerauer. Er leitet die Heime «Im Grund» in Uster ZH. Allein dort gibt es 70 freie Betten. Das ist ein Viertel des Angebots. Auch im «Haus zur Heimat» in Olten SO sind von ursprünglich 71 Betten aktuell nur 55 belegt. Heimleiter Marco Petruzzi schrieb 250 Senioren, die auf der Warteliste stehen, es habe Platz im Heim. Gemeldet hat sich bis jetzt ein einziger.
Auch viele Angehörige wollen ihre Eltern nicht in «abgeschotteten» Altersheimen unterbringen. In Olten gilt für Besuche: Maskenpflicht, Besuchsdauer höchstens 45 Minuten, keine Besuche im Zimmer der Bewohner. Auch dürfen die Bewohner ihre Angehörigen nicht umarmen. Diese Massnahmen gelten gemäss Verfügung des Kantons weiterhin – trotz Impfung.
Der Heimverband Curaviva schreibt dem K-Tipp: Der Verband setze sich für ein schnelles und konsequentes Testen und Impfen ein, damit die Restriktionen möglichst bald gelockert werden können. Das Gesundheitsdepartement des Kantons Solothurn sagt, in Alters- und Pflegeheimen lebten speziell gefährdete Risikogruppen. «Allein deshalb ist ein höheres Mass an Schutzmassnahmen geboten.» Der Kanton Luzern verspricht, eine Lockerung der Massnahmen auf den 1. März zu prüfen.
Experte Werner Widmer ist überzeugt: Heime müssen den Willen der Bewohner besser und stärker respektieren. Gespräche mit Mitarbeitenden von Pflegeheimen hätten gezeigt, dass ein Teil der 90 000 Bewohner es vorziehe, mit Angehörigen in Kontakt zu bleiben und das Risiko eines vorzeitigen Todes durch Covid in Kauf zu nehmen.
Heime in «offen» und «gesichert» trennen
Widmers Vorschlag: Heimbewohner sollten in Form einer erweiterten Patientenverfügung gefragt werden, was ihnen lieber sei: soziale Kontakte mit erhöhtem Ansteckungsrisiko oder möglichst grosse Sicherheit in Isolation. Heime sollten Stockwerke sowohl für die eine als auch für die andere Gruppe einrichten. Damit würde sich laut Widmer die Lebensqualität von vielen Betagten verbessern.
Die befragten Heimleiter reagieren auf diesen Vorschlag mit Skepsis. Tenor: Das sei organisatorisch nicht umzusetzen. Die Trennung von «offenen» und «gesicherten» Abteilungen stösst einzig bei der privaten Tertianum-Gruppe mit Hauptsitz in Zürich auf offene Ohren. Geschäftsleiter Luca Stäger sagt, zehn Prozent der Bewohner hätten sich bewusst nicht impfen lassen. Jetzt überlege man sich, wie diese Gruppe mit erhöhtem Corona-Risiko zusammengeführt werden könne.
Buchtipp
Das Buch «Corona in der Schweiz – Plädoyer für eine evidenzbasierte Pandemiepolitik» von Konstantin Beck und Werner Widmer kann man gratis downloaden: Corona-in-der-schweiz.ch.
Darauf sollten Angehörige und Heimbewohner achten
Christian Streit, Geschäftsführer des Heimverbandes Senesuisse, gibt Tipps.
Für Betagte vor dem Heimeintritt: Informieren Sie sich über die Besuchs-, Quarantäne- sowie die Ausgangsregelung des Hauses.
Für Angehörige: Verlangen Sie das Betriebsschutzkonzept, das jedes Heim hat.
Für Heimbewohner: Wenden Sie sich an die regionale Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb oder an die unabhängige Beschwerdestelle für das Alter (Adresse: Malzstrasse 10, 8045 Zürich, Tel. 0848 00 13 13), falls Sie sich Ihrer Rechte beraubt fühlen.