Cornelia Kramer (Name geändert) aus Uster ZH fiel aus allen Wolken, als sie Ende April ein Schreiben der Zentralen Inkassostelle des Zürcher Obergerichts erhielt: Sie soll 17'000 Franken Gerichts- und Anwaltskosten zahlen, die ihr der Kanton 2005 und 2008 einstweilen erlassen hatte. «Damit hatte ich nach all den Jahren nicht mehr gerechnet», sagt die heute 62-Jährige.
In den Nullerjahren liess sich die Zürcherin von ihrem Ehemann scheiden. Sie hatte aber kein Geld für den Prozess. Das Gericht bewilligte der Mutter einer damals zweijährigen Tochter die unentgeltliche Rechtspflege.
Verjährungsfrist kann unterbrochen werden
Das heisst: Die Gerichtskosten und die Kosten für den Anwalt übernahm der Kanton – vorläufig. «Eine Partei, der die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wurde, ist zur Nachzahlung verpflichtet, sobald sie dazu in der Lage ist.» So steht es in der Zivilprozessordnung. Es heisst dort aber auch, dass der Anspruch des Staates auf Rückzahlung zehn Jahre nach Abschluss des Verfahrens verjährt.
Cornelia Kramer ging davon aus, dass dies bei ihr nach fast fünfzehn Jahren ebenfalls der Fall sei. Doch sie irrte sich. Denn die Verjährungsfrist kann unterbrochen werden, etwa mit einer Betreibung oder mit der Anerkennung der staatlichen Forderung.
Letzteres hatte Kramer im Jahr 2014 unwissentlich getan. Damals war sie von der Inkassostelle des Obergerichts zur Rückzahlung aufgefordert worden. Sie war dazu nicht in der Lage, unterschrieb aber ein Schreiben der Inkassostelle, in welchem vermerkt war, dass sie die «Forderungen anerkenne». Die Zehnjahresfrist begann damit 2014 von neuem.
Zur Rückzahlung der Prozesskosten ist man wie erwähnt verpflichtet, wenn man «dazu in der Lage ist». Dabei handelt es sich um eine vage Formulierung, welche die Inkassostellen höchst unterschiedlich interpretieren. Das zeigt eine Umfrage der juristischen Fachzeitschrift «Plädoyer» bei den zuständigen Stellen in den Kantonen der Deutschschweiz («Plädoyer 4/2023):
Bei der Berechnung gehen die meisten Kantone vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum aus. Dieses setzt sich zusammen aus einem Grundbetrag sowie Wohnungsmiete und Kosten für die Krankenkasse. Hinzu kommen die Steuern. Viele Kantone gewähren einen Zuschlag auf den Grundbetrag von 15 (Basel-Stadt) bis 30 Prozent (Bern).
Das so berechnete erweiterte Existenzminimum wird mit dem Einkommen verglichen. Ist dieses höher als Ersteres, kann der Überschuss eingefordert werden.
Nur wenige Kantone kennen ein steuerbares Mindesteinkommen, das nicht angetastet wird. In Zürich etwa liegt dieses bei 45'000 Franken für Einzelpersonen und bei 55'000 Franken für Paare. Auch beim Vermögen variiert die Praxis der Kantone erheblich. In Obwalden gibt es keinen Freibetrag. In anderen Kantonen gelten Limiten von 5000 Franken (Bern) bis maximal 40'000 Franken (Zürich).
Die meisten Kantone fordern Prozesskosten während höchstens zehn Jahren zurück. Anders etwa St. Gallen: Der Kanton fordert die Rückzahlung der Kosten über eine längere Zeit ein – und auch nach dem Tod des Betroffenen bei den Erben.
Das Inkasso lohnt sich für die Kantone. In Bern flossen im Jahr 2022 rund 4,7 Millionen Franken an vorgeschossenen Prozesskosten zurück in die Staatskasse. In St. Gallen waren es 1,3 Millionen Franken, in Basel-Landschaft knapp 1,2 Millionen.
Kramers finanzielle Situation hat sich seit 2014 zwar verbessert. Sie versteuert heute ein Jahreseinkommen von 35'000 Franken. Vermögen hat sie keines. In drei Jahren wird sie pensioniert. Sie füllte im Juni mit Hilfe des K-Tipp das von der Inkassostelle des Obergerichts zugestellte «Erhebungsformular» aus, um ihre finanzielle Situation darzulegen. Sie bat das Gericht, ihr die Kosten definitiv zu erlassen.
Eine Woche nach Kramers 62. Geburtstag kam die erlösende Nachricht: «Aufgrund Ihrer finanziellen Situation erlassen wir Ihnen die Gesamtschulden», teilte ihr das Gericht mit. «Das war mein schönstes Geburtstagsgeschenk», sagt sie.