Ein Blick in die AHV-Bücher zeigt: Finanziell steht das wichtigste Schweizer Vorsorgewerk nach wie vor auf solidem Grund. Sein Vermögen belief sich Ende 2018 auf 43,5 Milliarden Franken.
Zwar verbuchte die AHV letztes Jahr per Stichtag 31. Dezember einen Verlust von 2,2 Milliarden Franken, davon 1,2 Milliarden auf den Anlagen. Doch diesen Verlust konnte sie im ersten Halbjahr 2019 wohl mehr als wettmachen. Darauf deuten die kräftigen Kursgewinne an der Börse hin: So legte der wichtigste Schweizer Index SMI in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um 17,43 Prozent zu.
Hinzu kommt: Nach dem Ja des Stimmvolks zur AHV-Prämienerhöhung im Mai dieses Jahres – verbunden mit einer Steuersenkung für Firmen – fliessen ab 2020 jährlich zwei zusätzliche Milliarden in die AHV-Kasse. Das ermöglicht, dass die AHV in den nächsten Jahren wieder schwarze Zahlen schreiben und ihr Vermögen vergrössern kann.
Trotzdem ist in die AHV-Debatte keine Ruhe eingekehrt. Im Gegenteil: Anfang Juli stellte der Bundesrat Details zur nächsten geplanten Reform «AHV 21» vor. Er erklärte einmal mehr, wie «notwendig und dringend» diese Reform aus finanziellen Gründen sei. Gleichzeitig legte das Bundesamt für Sozialversicherungen seine neusten Prognosen zur Entwicklung der AHV-Finanzen bis 2045 vor. Sie sagen unter anderem voraus, dass die erste Säule schon ab 2025 wieder rote Zahlen schreibt und 2034 bankrott sein wird. Mit der Reform «AHV 21» liesse sich, so die Prognosen, das Unheil nur um vier bis fünf Jahre hinausschieben.
Viele Medien verbreiten die düsteren Vorhersagen zur Zukunft der AHV geradezu atemlos. Eine markante Erhöhung des Rentenalters sei unumgänglich, folgern sie etwa. Die Zahlen des Bundes übernehmen sie blindlings – als ob es sich um Tatsachen handeln würde. Dabei sind Prognosen, die bis ins Jahr 2045 reichen, zwangsläufig mit grossen Unsicherheiten behaftet.
AHV-Bezugsdauer seit Jahren fast konstant
Klar ist: Die Zukunft der AHV-Finanzen hängt massgeblich von der Bevölkerungs- und von der Wirtschaftsentwicklung ab. Was Erstere betrifft, stützt sich das Bundesamt für Sozialversicherungen auf ein Szenario, welches das Bundesamt für Statistik vor vier Jahren präsentierte. Es enthält diverse Annahmen, von denen heute niemand weiss, ob sie sich als richtig oder falsch erweisen werden.
So rechnet das Szenario für die nächsten 25 Jahre mit einer deutlichen Abschwächung des Bevölkerungswachstums in der Schweiz. Die Prognose basiert hauptsächlich auf der Annahme, dass der Geburtenüberschuss in den nächsten Jahren stetig sinkt und dass ab 2040 mehr Menschen sterben als geboren werden. Fakt ist: In der Schweiz gab es in den letzten 100 Jahren kein einziges Mal einen Sterbeüberschuss.
Das Szenario geht ferner für die Zeitspanne ab 2015 bis 2045 von einem markanten Anstieg der Lebenserwartung 65-jähriger Männer und Frauen um 3,9 bzw. 3,5 Jahre aus. Für die AHV würde es teuer, sollten die Rentnerinnen und Rentner immer älter werden. Fakt ist aber, dass 2017 verstorbene Rentner im Durchschnitt 17,6 Jahre lang AHV bezogen – und damit gleich lang wie die 2012 Verstorbenen und gar 0,3 Jahre weniger lang als die 2016 Verstorbenen (K-Tipp 11/2019 und 15/2018).
Zahl der Neurentner sinkt ab 2030
Auch zur Wirtschaftsentwicklung muss das Bundesamt für Sozialversicherungen Annahmen treffen, ohne zu wissen, ob es damit ins Schwarze oder daneben trifft. Unter anderem geht es davon aus, dass die Teuerung ab 2021 exakt 1 Prozent beträgt und die Nominallöhne ab 2024 um durchschnittlich 1,8 Prozent steigen. Fakt ist: In den letzten zehn Jahren erreichte die Teuerung nie 1 Prozent. Und der Nominallohnanstieg betrug in neun der zehn Jahre weniger als 1,8 Prozent.
Es ist ziemlich verwegen, auf derart wackliger Basis die Einnahmen und Ausgaben der AHV bis 2045 zu prognostizieren. Einigermassen sicher lässt sich nur abschätzen, dass die Ausgaben der AHV bis 2028/2029 ansteigen werden: Dann erreicht der geburtenstärkste Jahrgang der Babyboom-Generation, die 1964 Geborenen, das Pensionsalter. In der Folge sorgte der Pillenknick dafür, dass die Geburtenzahl bis 1978 um fast 40 Prozent zurückging. Die Zahl der Neurentner sinkt also ab 2030.
Sollte zudem die Lebenserwartung kaum mehr ansteigen, ist denkbar, dass ab der zweiten Hälfte der 2030er Jahre jeweils mehr Rentnerinnen und Rentner sterben als Menschen das Pensionsalter erreichen. Das würde die AHV entlasten. Auch darf sie schon bald mit einer steigenden Anzahl Beitragszahler rechnen. Denn die Geburtenzahl nimmt in der Schweiz seit dem Jahr 2005 zu. In den vergangenen drei Jahren lag sie mit je über 87 000 geburten auf einer Höhe, die sie letztmals in den frühen 1970er-Jahren erreicht hatte.
Prognosen waren stets zu pessimistisch
Es ist also gut möglich, dass die finanzielle Lage der AHV in 20 bis 25 Jahren um einiges besser sein wird als vom Bund prognostiziert. In der Vergangenheit waren dessen Vorhersagen zur AHV stets zu pessimistisch («Saldo» 5/2018). Für Hektik, wie sie Politik und Medien in diesen Sommermonaten wieder erfasst hat, besteht jedenfalls kein Grund.
Bund schuldet der AHV noch immer Geld
Die Pensionierung der geburtenstarken Babyboomer wird das Vermögen der AHV in den nächsten Jahren schmälern. Aktuell beträgt es über 40 Milliarden Franken. Es ist so gross, weil die Babyboomer während ihres Erwerbslebens mehr Geld in die AHV einzahlten, als die Rentner daraus bezogen. Darum ist es plausibel, dieses Geld auch für diese Generation auszugeben.
Kommt hinzu: Die Bundeskasse schuldet der AHV noch immer mehr als 8 Milliarden. Dieses Geld wurde seit 1999 mit dem Segen des Parlaments aus dem sogenannten Demografieprozent in die Bundeskasse abgezweigt – obwohl das Demografieprozent laut Verfassung voll und ganz der AHV zusteht («Saldo» 19/2017).
Sollte die AHV dereinst trotz allem mehr Geld benötigen, so hat der AHV-Steuer-Deal im Mai gezeigt: Die AHV-Prämien können sehr schnell erhöht werden.