Am 10. August entgleisten 16 Wagen eines Güterzugs im Gotthard-Basistunnel. Der Schaden ist immens. Laut SBB dauert es mindestens bis Anfang 2024, bis wieder Personenzüge durch beide Röhren fahren können. Reisende ins Tessin müssen eine Stunde länger einplanen, da alle Personenzüge über die langsamere alte Gotthardstrecke fahren.
Der Unfall im Gotthard ist kein Einzelfall, wie bisher unveröffentlichte Protokolle des Bundesamts für Verkehr zeigen: Defekte an Güterwagen verursachten in den letzten sechs Jahren über 100 Unfälle mit Sach- und Personenschäden oder Betriebsunterbrüchen.
Kaputte Kupplungen, auslaufende Säure
Mindestens 15 Unfälle ereigneten sich allein in diesem und im vergangenen Jahr. Alle Vorfälle waren so gravierend, dass die SBB und andere Bahnen verpflichtet waren, sie dem Bundesamt für Verkehr zu melden.
Eine K-Tipp-Auswertung der Unfälle zeigt: Meistens führten kaputte Kupplungen oder andere Defekte dazu, dass sich Wagen lösten. So trennten sich zum Beispiel defekte Güterwagen, wie am 10. März 2023 um 8.20 Uhr auf der Strecke zwischen Altdorf und Flüelen UR. Weitere Güterzugunfälle:
- Am 8. Januar 2022 löste sich ein Güterwagen vom fahrenden Zug im Balernatunnel im Tessin. Das amtliche Protokoll hält fest: «Technischer Defekt Güterwagen – Kasten und Kupplungen.» Personen kamen keine zu Schaden.
- Weniger glimpflich verlief ein Unfall im Oktober 2020 beim Güterbahnhof Muttenz BL. Aus einem Leck im Tank eines Kesselwagens liefen 100 Liter für Mensch und Umwelt giftige Salzsäure in den Boden. 50 Feuerwehrleute kämpften gegen die giftigen Dämpfe. Ein SBB-Cargo-Zugkontrolleur musste ins Spital.
- Im Juli 2021 kam es zu einem weiteren gravierenden Vorfall mit Salzsäuretanks des französischen Logistikkonzerns Ermewa. Ein Lokomotivführer bemerkte in Lüsslingen SO während der Fahrt aufsteigende Säuredämpfe. Die Sicherheitsuntersuchungsstelle Sust kam zum Schluss: Bei beiden Chemieunfällen war der Leckschutz der Güterwagen mangelhaft.
Vermieter haften nicht für defekte Wagen
Seit 2017 entgleisten 19 Güterzüge. Meist wegen defekter Gestelle der Wagen. Oder es kam neun Mal wegen Defekten am Bremssystem zu Bränden. So etwa in Walenstadt SG. Im Unfallprotokoll steht: «Am 13. Oktober 2021 um 17:55 Uhr hielt der Kesselzug 69676 wegen eines Brandes an einem Kesselwagen.» Grund: «Technischer Defekt Güterwagen – Bremssystem.»
Dennoch haften Firmen, die Güterwagen an SBB Cargo oder an andere Bahnen vermieten, fast nie für Unfälle. Auch dann nicht, wenn der Unfall durch einen Mangel verursacht wurde, für dessen Behebung die Güterwagenbesitzer zuständig waren. Früher waren Bahnen wie SBB oder BLS für die Sicherheit und den Unterhalt der von ihnen angemieteten Güterzüge verantwortlich. Heute sind die Eigentümer der Güterzüge für den Unterhalt zuständig.
Der Bundesrat kritisierte das zwar an seiner Sitzung vom 21. Juni 2023. Die Gesetzeslücke schaffe «falsche Anreize dadurch, dass der Halter das finanzielle Risiko nur teilweise tragen muss». Zudem führe sie dazu, dass Steuerzahler und Bahnkunden bei Schadenfällen für die Kosten aufkommen müssen. Doch die Regierung rechtfertigt die fehlende Haftung als «historisch entstandenen Missstand» und sieht dennoch «keinen Handlungsbedarf».
Auf Anfrage des K-Tipp sagt das zuständige Bundesamt für Verkehr, dass die Beanstandungen bei Gefahrguttransporten im Jahr 2023 deutlich zurückgegangen seien. Das heisst: Früher kam es zu noch mehr sicherheitsrelevanten Vorfällen. Immerhin: Die Salzsäuretanks des französischen Güterverkehrskonzerns Ermewa dürfen nicht mehr in der Schweiz verkehren.