Krebserregende Pestizide in Trinkwasser und Gemüse, hormonell wirksame Chemikalien in Plastik und Kosmetik: Die Tests von K-Tipp und «Saldo» zeigen seit mehr als 25 Jahren, dass Industrie und Landwirtschaft mit dem Segen der Behörden gesundheitsschädliche Chemikalien einsetzen.
Die aktuelle Haaranalyse des K-Tipp beweist nun schwarz auf weiss: Die geltenden Gesetze und Grenzwerte reichen nicht aus, um die Bevölkerung wirksam vor diesen Schadstoffen zu schützen.
Ein spezialisiertes Labor in Frankreich untersuchte für den K-Tipp die Haare von 20 Testpersonen unterschiedlichen Alters aus der Deutsch- und der Westschweiz auf über 1800 schädliche Substanzen (siehe unten «So wurden die Haare analysiert»).
Im Durchschnitt 10 bis 20 Schadstoffe
Ergebnis: Bei allen Personen wurde eine Vielzahl an Schadstoffen und Schwermetallen gefunden. Dabei listete das spezialisierte Labor nur jene Substanzen auf, die Experten bei chronischer Belastung als gesundheitliches Risiko einstufen. Die untersuchten Haarproben von drei Zentimetern Länge lassen Rückschlüsse auf die Schadstoffbelastung innerhalb der letzten drei Monate zu.
Die Haare der meisten Testpersonen wiesen zwischen 10 und 20 Schadstoffe auf. Auch bei den drei Kleinkindern – zwei Zweijährige und ein Vierjähriger. Ein zweijähriger Knabe wächst im Zentrum der Stadt Zürich auf. Sein Beispiel zeigt, wie sich die Wahl der Lebensmittel auf den Schadstoffgehalt des Körpers auswirkt. Das Kleinkind isst sehr gerne Trauben und Rosinen. In seinen Haaren fanden sich Rückstände von Chlorobenzilaten und Naphthoxyaceticacid (Noa). Beide Substanzen werden im Obstbau eingesetzt. Chlorobenzilate sind laut den Laborexperten möglicherweise krebserregend. Der Stoff wird gegen Spinnmilben eingesetzt. Noa soll als synthetisches Pflanzenhormon das Wachstum der Pflanzen steuern. Die Auswirkungen auf den Menschen sind nicht erforscht.
Von den Testpersonen lebt ein junger Mann aus Fribourg am gesündesten. Seine Haarprobe wies nur acht Schadstoffe auf. Sein Rezept: möglichst bewusst essen. Er kocht gemäss eigenen Angaben alles frisch und verwendet dazu strikt nur saisonale Gemüse und Früchte. «Ich rauche nicht, esse kaum exotische Lebensmittel, und benutze praktisch keine Kosmetik», sagt der 27-Jährige.
Eine bewusste Ernährung garantiert jedoch nicht, dass der Körper wenig Gift aufnimmt. Neben dem Essen kommen die heiklen Substanzen auch via Haut oder über die Atmung ins Blut. Das belegen die zwei Frauen mit den meisten Schadstoffrückständen: In den Haaren einer 16-jährigen Waadtländerin und einer 77-jährigen Thurgauerin fanden sich mehr als 20 problematische Stoffe (siehe Porträts unten).
Die Gründe: Die junge Frau aus der Waadt schminkt sich gerne, die ältere Thurgauerin lebt auf dem Land, und ihr Grundstück ist umgeben von landwirtschaftlich genutzten Äckern und einer Geflügelzucht.
Die Unterschiede zwischen dem Mann aus der Stadt Fribourg und der Frau aus dem Kanton Thurgau zeigen: Der Wohnort hat einen grossen Einfluss auf die Schadstoffbelastung der Menschen. Städter haben eher die Möglichkeit, Schadstoffquellen über bewussten Konsum zu eliminieren und so die chronische Belastung mit heiklen Stoffen zu senken. Auf dem Land ist dies kaum möglich. Gegen Schadstoffe aus der Landwirtschaft sind Zäune machtlos.
Dies beweisen auch zwei aktuelle Studien des Umweltinstituts München (D) und der Uni Neuenburg. Beide Untersuchungen beschäftigten sich mit der Verbreitung von Pestiziden über die Luft. Das beunruhigende Ergebnis: Spritzmittel werden vom Wind kilometerweit verteilt. Die Forscher der Uni Neuenburg stellten beispielsweise auf den meisten untersuchten Bio-Feldern viele Insektizide aus Nachbarfeldern fest.
Gefährlicher Cocktaileffekt
Unter den gefundenen Schadstoffen sind Chemikalien wie Flammschutzmittel und Pestizide, die das Hormonsystem negativ beeinflussen. Sie können nicht nur die Fruchtbarkeit vermindern oder die Entwicklung von Ungeborenen stören. Diese hormonell aktiven Stoffe haben das Potenzial, ihre Wirkungen gegenseitig zu verstärken. Ein deutsch-dänisches Forscherteam der Universität Münster (D) hat den Cocktaileffekt von Chemikalien aus Plastik, Textilien und Kosmetika zuletzt im September 2018 an Spermien nachgewiesen.
Kommt hinzu: Viele giftige Substanzen bauen sich in der Umwelt nur sehr langsam ab. Deshalb finden sich Rückstände davon auch nach Jahren im Boden, im Wasser und in der Luft. Zwei Beispiele für sehr dauerhafte Pestizide sind DNOC und Atrazin. Beide Stoffe gehören zu den Chemikalien, die das Labor bei 13 der 20 Testpersonen gefunden hat – beides sind Altlasten. Die zwei Unkrautvernichter sind in Europa und der Schweiz seit Jahren verboten. Sie lagerten sich jedoch im Boden ein und werden langsam an das Wasser abgegeben.
So wurden die Haare analysiert
Das Labor Tox Seek in Ennery (F) ist auf Schadstoffanalysen im menschlichen Haar spezialisiert. Es suchte im Auftrag des K-Tipp in den Haaren von 20 Testpersonen nach rund 1800 organischen Schadstoffen und 46 Metallen und Schwermetallen.
Zu den organischen Schadstoffen zählen Hunderte von Pestiziden, aber auch Plastikweichmacher, Kosmetikkonservierungsmittel wie Parabene, Bisphenole und andere kritische Stoffe. Die meisten dieser Substanzen können das Hormonsystem negativ beeinflussen, oder sie führen bei chronischer Hintergrundbelastung zu einem erhöhten Risiko für Krebs und Organschäden.
Rückstände von Abgasen aus dem Strassenverkehr wie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Formaldehyd und Kohlenmonoxid werden durch die Analyse nicht abgedeckt. Dafür wäre ein anderes Verfahren notwendig. Untersucht wurde jeweils eine drei Zentimeter lange Haarsträhne. 3 cm bilden einen Zeitraum von rund drei Monaten ab.
Quellen: Die Angaben zu den Risiken der gefundenen Schadstoffe basieren auf folgenden wissenschaflichen Quellen: Nationales Zentrum für biotechnologische Informationen der USA NCBI; Pesticide Properties Data Base PPDB der englischen Universität Hertfordshire; Pesticide Action Network North America PAN; US National Library of Medicine NIH; Internationale Agentur für Krebsforschung IARC; Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit Efsa; Anses Nationales Gesundheitsamt Frankreich; Französisches Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung CNRS; Französisches Institut für Arbeitssicherheit INRS.
16-jährige Frau aus der Waadt
28 Risikostoffe gefunden
Die junge Frau wohnt auf dem Land und geht in der Stadt zur Schule. Sie benutzt regelmässig diverse Kosmetikprodukte. In ihren Analyseresultaten tauchen Konservierungsstoffe wie Phenoxyethanol, Weichmacher und viele Schwermetalle wie Quecksilber, Blei und Kadmium auf. Letztere findet man vor allem in den Farbpigmenten von Kosmetik wie Kajal, Lidschatten oder Lippenstift. Das Labor fand bei ihr 28 Risikostoffe – so viele wie sonst bei keiner der 20 Testpersonen. Drei Beispiele:
Dimethylphthalat: Dieser chemische Stoff wird als Insektenvernichter, Lösungsmittel und Weichmacher verwendet. Er kommt ausser in Lebensmittelverpackungen vor allem in Kosmetika zum Einsatz.
p-Cresol: Der Stoff wird eingesetzt in der Kunststoff- und Pharmaherstellung. Er kommt unter anderem in Tabak und Farben vor. Er gilt als krebserregend und beeinflusst das zentrale Nervensystem.
Blei: Das Schwermetall kommt in Lippenstiften oder Puder vor. Es gilt als krebserregend.
77-jährige Frau aus dem Thurgau
21 Risikostoffe gefunden
Die Thurgauerin pflegt einen eigenen Bio-Garten und ernährt sich bewusst mit Bio-Lebensmitteln. Trotzdem fand das Labor in ihren Haaren verschiedene Medikamentenrückstände, die in Tierbetrieben angewendet werden – und zudem Gift gegen Nagetiere. Hinzu kamen viele Pestizide, die Bauern im Obstbau und im Anbau von Weizen und Mais versprühen. Des Rätsels Lösung: Das Grundstück der Frau ist umgeben von landwirtschaftlich genutzten Äckern und einer Geflügelzucht. Das Labor fand bei ihr 21 Risikostoffe – am zweitmeisten von allen 20 Testpersonen. Drei Beispiele:
Thiram: Ist ein Antipilzmittel, das in der Landwirtschaft eingesetzt wird. Steht im Verdacht, hormonell zu wirken. Soll Nerven und Leber schädigen. Gilt als krebserregend.
Octhilinon: Ein Antipilzmittel. Beeinträchtigt die Atemwege.
Sulfaquinoxalin: Ein Medikament, das in der Rinder-, Schaf- und Geflügelzucht eingesetzt wird. Es steht im Verdacht, Leber und Nieren zu schädigen.