Am 14. Juli 2018 endet das kurze Leben von Max Kreuzer. Er wurde gerade einmal 14 Monate alt. Sieben Monate später stirbt der 8-jährige Leon Pasanen. Auffällig: Beide wohnten in Flaach, im Zürcher Weinland, und beide Kinder starben an einem Hirntumor. Solche Fälle sind selten: Pro Jahr erkranken in der Schweiz rund 50 Kinder daran. Die Eltern der beiden Kinder in Flaach hörten sich um und stellten schnell fest: In ihrer nächsten Umgebung gab es noch weitere betroffene Familien – auffällig viele.
Hirntumorfälle bei Kindern ausgewertet
Kinder erkranken nicht überall gleich häufig an Hirntumoren. Das zeigt eine Studie des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Bern, die im Sommer erschien. Es ist die erste Untersuchung in Europa, welche die Häufigkeit von Hirntumoren in den verschiedenen Regionen eines Landes erfasst.
Der Befund der Forscher lässt aufhorchen: Im Zürcher Weinland und im Berner Seeland gibt es mehr Fälle als im Schweizer Durchschnitt. Die Forscher werteten 1290 Hirntumorerkrankungen in der Schweiz über die Jahre 1985 bis 2015 aus dem Kinderkrebsregister statistisch aus.
Sowohl das Zürcher Weinland als auch das Berner Seeland sind landwirtschaftlich intensiv genutzte Gebiete. In Rebbergen, auf Obstplantagen und Gemüsefeldern versprühen Bauern dort grosse Mengen an Pestiziden. Laut Michel Gygax, Präsident der Konferenz der kantonalen Pflanzenschutzdienste, sind es im Rebberg 5 bis 10 Spritzungen pro Jahr, im Gemüsefeld 5 bis 20 und in einer Obstplantage 10 bis 20 – durchschnittlich. Insgesamt verspritzen Bauern so Hunderte Tonnen Substanzen, von denen einzelne bereits in Kleinstmengen giftig seien, sagt Fausta Borsani vom Verein Ohne Gift.
Bekannt ist: Pestizide werden beim Spritzen über die Luft verteilt. Man kann die giftigen Partikel sogar in Wohnungsstaub nachweisen. Pestizidrückstände findet man auch im menschlichen Urin und im Trinkwasser, wie Stichproben des K-Tipp zeigten (K-Tipp 1/20 und 10/20). Einige Rückstände stammten von Stoffen, die im Verdacht stehen, Krebs auszulösen.
Für Robert Pasanen, Vater des verstorbenen Leon und Naturwissenschafter, ist klar: Die Gründe für den Tod seines Sohnes sind bei den Pestizidrückständen im Trinkwasser zu suchen.
Zürcher Experten bestätigen Risiko
Im Frühling des vergangenen Jahres wandten sich die Familien der an Hirntumoren verstorbenen Kinder an die Zürcher Behörden. Sie forderten die Beamten auf, die häufigen Erkrankungen in ihrer Region abzuklären. Anfänglich mit Erfolg: Eine kantonale Expertengruppe bestätigte am 18. Juni 2019 das erhöhte Hirntumorrisiko für Kinder im Kanton Zürich. Die Gruppe bestand aus dem damaligen Kantonsarzt, dem Kantonschemiker, der Zürcher Leiterin des Kinderkrebsregisters, dem Onkologieabteilungsleiter des Kinderspitals und dem Chef des Zürcher Wasseramts Awel.
In einem Schreiben an die betroffenen Familien, das dem K-Tipp vorliegt, steht: «39 Prozent Erhöhung für 2005 bis 2015.» Das heisst: Im Kanton Zürich gab es in diesem Zeitraum 39 Prozent mehr Fälle von Hirntumoren bei Kindern als im Durchschnitt der ganzen Schweiz. Im Bezirk Andelfingen ist das Risiko sogar noch höher: Es wurden «gesamthaft 7 statt wie erwartet 2 Fälle von Hirntumoren gemeldet».
Über mögliche Gründe dieser Häufung an Hirntumoren sagten die Zürcher Experten nichts. Insbesondere im Trinkwasser habe man in den betroffenen Bezirken keine bekannten Belastungen erkennen können. Die Fachleute beschlossen, neuere Erkrankungen nach 2015 sowie die Trinkwasserdaten vertiefter auszuwerten. Das war vor gut einem Jahr. Im Juni 2020 tappen die Experten immer noch im Dunkeln. Bei den Trinkwasseranalysen hätten sie «keine kausale Erklärung» für das erhöhte Risiko gefunden.
Im Kanton Bern, dem zweiten Gebiet mit erhöhtem Risiko für Kinder, zeigt sich die Gesundheitsdirektion ebenfalls ratlos. Fragen des K-Tipp könne man im Moment nicht beantworten. Laut der Behörde sind zwar Abklärungen im Gang. Doch wegen der Corona-Pandemie sei «mit Verzögerungen zu rechnen».
«Pestizide sind eine mögliche Erklärung»
Weiter sind die Forscher und Präventivmediziner der nationalen Studie der Uni Bern: Sie erreichten mit ihren Befunden internationale Aufmerksamkeit und gehen einer konkreten Spur nach. Laut dem Kinderkrebsmediziner Roland Ammann sind Pestizide «eine mögliche Erklärung für das erhöhte Krebsrisiko».
Der Bauernverband sagt, er begrüsse es, «wenn die Ursachen fundiert geklärt werden». Es sei aber nicht seriös, «Pflanzenschutzmittel aufgrund der Studie als Hauptverdächtige darzustellen». Es gebe unzählige Chemikalien im Alltag, die Schadenspotenzial hätten.
Der deutsche Toxikologe Peter Clausing sagt zur Frage, ob die Chemikalien Hirntumore auslösen können: «Ein Zusammenhang zwischen Hirntumoren und krebserregenden Pestiziden ist in der wissenschaftlichen Literatur belegt.»
Clausing war früher für einen deutschen Pharmakonzern sowie die Lebens- und Arzneimittelbehörde der USA tätig. Heute schreibt er Expertisen für das deutsche Pestizid Aktions-Netzwerk. Nach den Befunden der Schweizer Forscher wollen die Verantwortlichen des Kinderkrebsregisters Deutschland dem möglichen regional unterschiedlichen Hirntumorrisiko für Kinder in Deutschland nachgehen.
Die Berner Kinderkrebsforscher untersuchen zurzeit in einer neuen Studie, ob Kinder häufiger an Krebs erkranken, wenn sie nahe bei Rebbergen, Obstplantagen, Gemüsefeldern und Äckern leben. Für die Schweiz erwarten die Forscher erste Resultate im nächsten Frühling.
Weitere Fälle auch in jüngster Zeit
Die Ergebnisse der Studie dürften im Zürcher Weinland und im Berner Seeland auf Interesse stossen. Denn die Zahl der an Hirntumoren erkrankten Kinder im Zürcher Hotspot ist auch in jüngster Vergangenheit auffällig hoch, wie die betroffenen Familien Pasanen und Kreuzer herausfanden. Allein aus den drei Jahren 2017 bis 2019, in denen ihre Kinder gestorben sind, sind ihnen insgesamt sechs Fälle aus der nahen Umgebung bekannt. Die meisten dieser Kinder sind an den Hirntumoren gestorben.
Familie Pasanen mag nicht mehr auf Forscher und Behörden warten. Der Verlust ihres Kindes schmerzt. Die Sorge vor weiteren Erkrankungen ist allgegenwärtig. In diesem Sommer packte die Familie ihre Sachen und zog um – weg aus der «Gefahrenzone» des Zürcher Weinlands.