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K-Geld 3/2001
01.06.2001
Wirtschaftsdaten sind ihnen ein Graus. Lieber brüten sie im stillen Kämmerlein über Kurven und Diagrammen. Und fällen dann ihre Anlageentscheide. Denn die Börse, so glauben die Chartanalytiker, bewege sich nach immer wiederkehrenden Mustern.
«Ich würde nie ein Papier anfassen, ohne vorher auf die Charts zu schauen», sagt Hans-Dieter Schulz. Nach Meinung des deutschen Gurus der Aktienanalyse fliessen in den Kursverlauf einer Aktie alle bekannten Daten ein. Ein Blick auf das...
Wirtschaftsdaten sind ihnen ein Graus. Lieber brüten sie im stillen Kämmerlein über Kurven und Diagrammen. Und fällen dann ihre Anlageentscheide. Denn die Börse, so glauben die Chartanalytiker, bewege sich nach immer wiederkehrenden Mustern.
«Ich würde nie ein Papier anfassen, ohne vorher auf die Charts zu schauen», sagt Hans-Dieter Schulz. Nach Meinung des deutschen Gurus der Aktienanalyse fliessen in den Kursverlauf einer Aktie alle bekannten Daten ein. Ein Blick auf das fiebrige Auf und Ab genüge, um bestens informiert zu sein. «Es gibt nichts, was der Chart einem nicht schon vorher signalisiert.» Schulz steht mit seiner Meinung nicht alleine da. In den 90er-Jahren hat sich die technische Analyse emanzipiert. Dass dies parallel zum Computer- und Internetboom vor sich ging, war nicht ganz zufällig. Der Computer ist das wichtigste Werkzeug der Chartanalytiker, im Web lassen sich binnen Sekunden alle wichtigen Informationen herunterladen.
Längst hat sich die Charttechnik etabliert. Auch hierzulande beschäftigen die Finanzhäuser Analytiker, die sich vorab mit Charts auseinandersetzen. Allerdings ist ihre Zahl im Vergleich zu den Fundamentalanalysten noch immer klein.
Das verwundert weiter nicht. Niemand glaubt wohl im Ernst, an der Börse sei Psychologie alles. Oder dass die Analyse von volkswirtschaftlichen Daten und des Marktumfelds nichts bringe, da alle Informationen in den aktuellen Kursen schon berücksichtigt seien. Nach dem unvergleichlichen Boom und dem Crashartigen Platzen der Hightech-Blase braucht es schon ein Stück Unverfrorenheit, um zu behaupten, die Börse korrigiere Fehleinschätzungen jeweils schnell und sehr effizient.
Ein Vorwurf, der im Übrigen genau gleich auf die Fundamentalanalysten zutrifft. Sie hatten ihre übertriebenen Erwartungen an die New Economy erst im Nachhinein korrigiert, als die erste Welle von Gewinnwarnungen die Börse zu überrollen begann.
Eher bedenklich steht es um die theoretischen Grundlagen der reinen Chartanalyse. Sie ist ein robustes Pflänzchen, das sich aus einem Gebräu aus Massenpsychologie und etwas Chaosforschung nährt. Sogar der deutsche Chartanalytiker und Buchautor Reza Darius Montassér fordert seine Kollegen auf, endlich eine Theoriediskussion zu beginnen. Sonst bestehe die Gefahr, die technische Analyse verkomme «zum Bauernkalender der Kapitalmärkte».
Der Hinweis, die Chartanalyse sei das Ergebnis empirisch gewonnener Erkenntnisse, sei zu wenig stichhaltig, solange niemand erklären könne, warum bestimmte Kursmuster bestimmte Kursentwicklungen vorwegnehmen sollen.
Statt auf die graue Theorie verweisen die Chartisten lieber auf die Misserfolge der Fundamentalanalyse und die tatsächlich spektakulären Erfolge ihrer Gurus. Zum Beispiel jene von Ralph Acampora: War es doch der Prudential-Security-Mann, der 1995 unter dem Gelächter der Analystenzunft kühn prophezeite, der Dow Jones werde in nur drei Jahren von damals 4500 auf 7000 steigen - er bekam schon im Februar 1997 Recht. Hatten sich nicht auch seine anderen Prognosen «Dow 8250» und «Dow 10000» als Volltreffer erwiesen?
Dass in der Folge der Einfluss der technischen Analyse auf das Börsengeschehen zunahm, war beinahe zwangsläufig. Das hatte auch einen angenehmen Nebeneffekt. Denn je mehr Marktteilnehmer an die Richtigkeit der Chartanalyse glauben, umso eher treffen ihre Prognosen ein. Was im Übrigen genau gleich für die Fundamentalanalyse gilt.
Trotzdem, in Europa konnten sich die reinen Chartisten nie durchsetzen. Ihre Stelle nehmen die Markttechniker ein. Sie begnügen sich nicht allein mit der Interpretation von Charts, sondern durchforsten den gesamten Markt nach Indikatoren, die Aufschluss über die künftige Kursentwicklung geben können.
Die reine Chartanalyse basiert auf einer Handvoll Kernsätzen. Die wichtigsten: An der Börse sei alles Psychologie und der Trend dein Freund - man müsse ihn nur rechtzeitig erkennen. Fragen nach der fairen Bewertung stellen Chartanalytiker nicht. Denn sie wissen: «Der Markt hat immer Recht, auch wenn sich die Aktien über Jahre hinweg von der vermeintlichen fundamentalen Bewertung wegbewegen», sagt zum Beispiel der deutsche Chartanalytiker Andreas Schwarzkopf.
Der Schweizer Markttechniker Roland Vogt von Invest.ch: «Der Preis einer Aktie wird allein von Angebot und Nachfrage bestimmt. Es ist nicht wesentlich, ob eine Firma fair bewertet ist, sondern nur, ob die Aktie zum aktuellen Preis einen Käufer findet oder nicht.»
Scheinbar einfach ist auch die Methode. Man bildet die Kursentwicklung in einer Linie (Chart) ab, die man vom Internet herunterlädt, und verbindet die untersten oder obersten Punkte miteinander. Weil sich gemäss Theorie in den Kursen alle verfügbaren Informationen spiegeln, lässt sich die weitere Entwicklung an der Börse anhand bestimmter Kursmuster leichter einschätzen. Genauer: Die Chartanalyse versucht herauszufinden, an welchem Zeitpunkt ein Trend abbricht. Die technische Analyse sammelt also Daten aus der Vergangenheit und schreibt daraus die Zukunft fort.
Ihr Arbeitsinstrument ist der Computer, ihre Arbeitsgrundlage sind Charts. In Europa verwendet man gemeinhin Linien-, Bar- und Candlestick-Charts. Alle haben Vorteile, alle auch gewisse Grenzen.
Linien-Charts sind die einfachste Darstellungsweise. Man verbindet Kurse zu einer Linie. Der Vorteil: Kurse lassen sich über beliebig lange Zeiträume abbilden. Zudem sind die typischen Muster leicht erkennbar.
Bar-Charts eignen sich, um Tagesschwankungen sichtbar zu machen. Jeder Balken steht für einen Tag: Das obere Ende stellt das Tageshöchst, das untere das Tagestiefst dar. Die kleinen Striche auf der linken Seite geben den Eröffnungskurs an, jene auf der rechten die Schlusskurse.
Candlestick-Charts sind die Lieblinge der Profis, denn in sie kann man noch mehr Informationen packen. So etwa gibt die Länge von Docht und Lunte Auskunft über die Kräftekonstellation am Markt. Zudem lassen sich anhand von Kleinstformationen mit so illustren Namen wie Morning Star, Hammer oder Harami kurzfristig wirksame Faktoren darstellen. Ihr grosser Vorteil ist auch ihr Handicap: Wegen der Masse an Informationen kann man mit ihnen nur kurze Zeiträume nachzeichnen.
Diese Charts erzählen Geschichten. Allerdings verstehen nur Eingeweihte ihre Sprache. Wie vielen Fachsprachen genügt auch der Charttechnik ein kleines Set an Zeichen: TrendLinien, Kanäle und Formationen.
Mit Trend-Linien fängt alles an. Gehts an der Börse aufwärts, verbindet man mindestens zwei Tiefs eines Charts durch eine Gerade. Fertig ist die Aufwärtslinie. Je mehr Tiefs diese Linie touchieren, desto stärker der Trend. Bei Abwärtstrends geht es gleich, nur legt man das Lineal bei den Tops an. Durchbricht der Chart eine Trend-Linie, kann dies ein Signal sein, dass der Kurs sich in eine andere Richtung entwickelt.
Manchmal schwankt der Chart wie zwischen zwei Schienen (=Trend-Kanal). Bricht die Kurslinie daraus aus, ist eine Trendwende zu erwarten. Oft passiert es aber, dass der Chart nur kurzfristig ausbricht und dann wieder dem alten Trend folgt. Um zu verhindern, dass man in solche Bären- bzw. Bullenfallen tritt, bauen Charttechniker Sicherungen ein: Eine besagt, dass der Trend um mindestens 3 Prozent durchbrochen sein müsse, ehe man von einer Wende sprechen könne.
Kluge Kurvenleser werfen immer auch einen Blick auf die Umsätze, vor allem wenn es an der Börse aufwärts geht. Denn das Handelsvolumen gibt Auskunft, in welcher Verfassung sich der Markt präsentiert. Börsianer lieben hohe Umsätze, nicht nur weil dies Geld in ihre Kassen spült. Denn generell gilt: Je höher die Umsätze, desto nachhaltiger der Trend. Kleine Volumen sind ein Hinweis darauf, dass der Trend abflacht.
Die Chartanalyse wäre ein einfaches Geschäft, wenn sie nur mit Trends arbeiten würde. Die Profis sind immer auf der Suche nach bestimmten Mustern. Einige bestätigen den aktuellen Trend, andere deuten einen Stimmungswandel an.
Muster wie Dreiecke, Wimpel, Keile, Flaggen und Rechtecke bestätigen den Grundtrend. Am verlässlichsten sind symmetrische Dreiecke. Wimpel, die sich in maximal vier Wochen ausbilden, deuten einen instabileren Kursverlauf an. Flaggen sind kurze Gegentrends; meistens schwächt sich danach der Trend ab. Wie beim Wimpel gibt die Länge des Masts das Kursziel an.
Mindestens so wichtig sind Muster, die eine Trendumkehr signalisieren. Die bekanntesten sind Kopf-Schulter-Formationen (gelten als verlässlich), Doppel-Tops (relativ zuverlässig), fallende und ansteigende Dreiecke (typisch sind heftige Ausbrüche), V-Formationen (drastische Trendwende) und Untertassen (sehr selten). Diese Kursmuster sind nur aussagekräftig, wenn das Handelsvolumen zu Beginn der Formation sinkt und beim Ausbruch hochschnellt.
Weil Börsianer das Risiko scheuen wie der Teufel das Weihwasser, suchen Chartanalytiker in Charts nach Signalen und Daten, die ihre Prognosen erhärten oder widerlegen. Dabei hilft ihnen die so genannte Indikatorenanalyse.
Ein wichtiger Indikator sind die gleitenden Durchschnitte. Sie zeigen die Entwicklung eines Durchschnittspreises für bestimmte Perioden an. Gebräuchlich sind 38-Tage- und 200-Tage-Linien. Sie geben den aktuellen Grundtrend an.
Gleitende Durchschnitte lassen sich unterschiedlich interpretieren. Drei Beispiele: Fällt der Aktienkurs unter die Durchschnittslinie, ist das ein Verkaufssignal. Entfernt sich der Tageschart stark von der Durchschnittslinie, besagt dies, der Markt sei überkauft oder unterbewertet. Fällt der kurzfristige Trend unter den längerfristigen, entsteht ein Verkaufssignal (Crossover-Methode).
Es gibt eine Vielzahl weiterer Indikatoren, die Kursvoraussagen sicherer machen sollen. Zum Beispiel den MACD-Indikator, mit dessen Hilfe sich Kursübertreibungen messen lassen. Oder die vor allem in den USA gebräuchlichen Stimmungsindikatoren wie das Verhältnis von gehandelten Put- zu Call-Optionen (Put-Call-Ratio) oder von Tagesgewinnern zu Verlierern. Für sich allein genommen haben solche Stimmungsindikatoren wenig Aussagekraft. Aber je mehr Signale in die gleiche Richtung deuten, desto verlässlicher soll die Voraussage sein.
Solche Trend-Indikatoren sind mühsam zu berechnen. Aber dafür gibts eigens Software, die man zum Teil gratis aus dem Internet herunterladen kann (etwa bei www.equis.com). Man kann sie sich aber auch im Netz bei jedem guten Börsenportal für fast jeden Titel oder Index gratis berechnen lassen.
Statt eines Fazits eine Warnung: Wäre die Chartanalyse so einfach und sicher, wie immer wieder behauptet wird, gäbe es schon bald keine Analytiker mehr, sondern nur noch millionenschwere Ex-Chartisten.
Martin Vetterli
Weiterführende Literatur: «Technische Analyse verstehen» von Reza Darius Montassér, Finanzbuch-Verlag, Fr. 45.50.
Technische analyse im internet
www.taprofessional.de Das Internetmagazin für technische Analyse. Eine Fundgrube an Informationen. Ähnliches bietet das Online-Magazin für Daytrader, www.tradewire.de.
www.chart-line.de bietet einen guten Einstieg, ist im Vergleich zum Analyseapparat von www.chartanalyse.de ein Kinderspielzeug.
www.stockx.ch, www.swissquote.ch und www.invest.ch (zum Nachlesen von Analysen) sind besser auf Schweizer Verhältnisse ausgerichtet. Analyse-Seiten wie www.infowelt.de (von Hans-Dieter Schulz) oder www.invest.ch (Roland Vogt) findet am einfachsten auf den Linklisten von Internetmagazinen. Und an www.equis.com kommt kein Chartist vorbei.