Rund 1,4 Milliarden Franken pro Jahr beträgt das Defizit der IV. Immerhin: Die Tendenz ist sinkend. Gesamthaft steht die IV inzwischen mit rund 13 Milliarden Franken bei der AHV in der Kreide. Niemand bestreitet: Das kann so nicht weitergehen. Um das jährliche IV-Defizit während sieben Jahren zu tilgen, soll die Bundeskasse von 2011 bis 2017 zum einen die Schuldzinsen der IV von 360 Millionen Franken pro Jahr übernehmen. Vor allem aber hat die Parlamentsmehrheit beschlossen, für denselben Zeitraum die Mehrwertsteuer zu erhöhen.
1,1 Milliarden von den Konsumenten
Das letzte Wort hat das Volk. Bei einem Ja in der Abstimmung vom 27. September steigt der Mehrwertsteuer-Normalsatz um 0,4 auf 8,0 Prozent. Der reduzierte Satz für Güter des täglichen Bedarfs wächst um 0,1 auf 2,5 Prozent und der Sondersatz für die Hotellerie um 0,2 auf 3,8 Prozent. Damit fliessen der IV unter dem Strich jährlich rund 1,1 Milliarden Franken zu. Und zwar aus den Taschen der Konsumentinnen und Konsumenten, die für jeden Einkauf und jede Dienstleistung mehr zahlen müssen. Verteilt man die 1,1 Milliarden auf die 7,7 Millionen Einwohner der Schweiz, ergibt sich pro Kopf – vom Baby bis zum Greis – eine jährliche Mehrbelastung von über 140 Franken.
Das klingt vielleicht nicht dramatisch. Stossend aber ist, dass Bundesrat und Parlament es nicht für nötig erachtet haben, ernsthaft Alternativen zur Erhöhung der Mehrwertsteuer zu prüfen. Denn diese Steuer ist unsozial. Eine Verkäuferin mit einem Monatseinkommen von 4000 Franken zahlt einen höheren Prozentsatz ihres Lohns an Mehrwertsteuern als etwa ein leitender Angestellter mit 150’000 Franken Einkommen (siehe unten).
Bei Lohnabzügen wäre das nicht der Fall: Hier zahlt weniger, wer schlecht, und mehr, wer gut verdient. Da fragt es sich, weshalb die Politiker statt der Mehrwertsteuer nicht die Lohnabzüge erhöhen wollten, zumal die IV auf die Erwerbstätigen zugeschnitten ist und für die Folgen von Erwerbsunfähigkeit aufkommt, sich die IV zum grössten Teil über Lohnbeiträge (1,4 Prozent, die sich Arbeitgeber und -nehmer teilen) finanziert, und les üblich ist, dass eine Versicherung ihre Prämien an die effektiven Kosten anpasst.
Kommt hinzu: Die Lohnabzüge müssten nur geringfügig erhöht werden, um Mehreinnahmen von 1,1 Milliarden Franken pro Jahr zu erzielen. Ausgehend von den Zahlen von 2007, als der IV mit dem Satz von 1,4 Prozent knapp 4,25 Milliarden zuflossen, reichte eine Erhöhung um 0,37 Prozent aus. Ein Angestellter mit 80’000 Franken Bruttolohn würde somit pro Jahr 148 Franken mehr an die IV zahlen als heute – gut 12 Franken pro Monat.
Weg des geringsten Widerstands
Doch Arbeitgeber, Unternehmensverbände und bürgerliche Parteien wollten von höheren Lohnbeiträgen nichts wissen. Bei der Beratung der IV-Vorlage im Parlament war ein entsprechender Antrag von links chancenlos. Die Mehrheit beschritt wie der Bundesrat den Weg des geringsten Widerstands und stellte sich hinter die konsumentenfeindliche Mehrwertsteuer-Variante. Paul Rechsteiner, SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, wunderte sich über diese Haltung nicht: «Bei den hohen und höchsten Löhnen schenkt es eben ein, ob man Lohnbeiträge zahlen muss oder ob man Mehrwertsteuer zahlt.»
Riesige Gewinne der Unfallversicherungen
Übrigens: Den jährlichen Verlust der IV könnte man mit den Gewinnen aus der obligatorischen Unfallversicherung von heute auf morgen aus der Welt schaffen. Denn den Unfallversicherungen geht es blendend. Ein Blick auf die Gesamtrechnung sämtlicher Unfallversicherer – also der Suva plus der privaten Gesellschaften wie Axa Winterthur oder Zürich – in den letzten zwanzig Jahren zeigt, wie lukrativ dieser Bereich ist: 1990 nahmen die Unfallversicherer 1,1 Milliarden Franken mehr ein, als sie ausgaben. Im Jahr 2000 betrug die Differenz schon 1,4 Milliarden, 2005 dann 1,8 und 2006 2,2 Milliarden.
Darum ist die Mehrwertsteuer unsozial
Die Mehrwertsteuer wird nicht aufgrund der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Person erhoben, sondern aufgrund des Konsumverhaltens: Praktisch jeder Warenkauf und jede Dienstleistung wird mit der Mehrwertsteuer belegt. Sie belastet alle Menschen gleich – ob arm oder reich. Haushalte mit weniger Einkommen sind durch die Mehrwertsteuer stärker betroffen als reiche Haushalte. Wer viel verdient und nicht das ganze Einkommen für den Lebensbedarf ausgeben muss, ist privilegiert. Denn das Geld, das gespart werden kann, unterliegt nicht der Mehrwertsteuer. Die Mehrwertsteuer soll jetzt zum dritten Mal seit ihrer Einführung 1995 erhöht werden. Im Gegensatz dazu werden die Einkommenssteuern teilweise gesenkt. Davon profitieren die gut Verdienenden am meisten.
Bund: Jammern trotz satter Überschüsse
Die Rechnung des Bundes erzielt seit 2006 ordentliche Überschüsse zwischen 2,5 und 7,3 Milliarden Franken – vor allem dank reichlich sprudelnder Steuereinkünfte. Selbst für das laufende Jahr sind trotz Konjunktureinbruch noch schwarze Zahlen in der Bundeskasse zu erwarten. Trotzdem haben es Bundesrat und Parlament gar nicht erst in Erwägung gezogen, das jährliche IV-Defizit aus dieser Quelle zu begleichen.
Kommt hinzu, dass sich der Bund am Ertrag seiner florierenden Unternehmen Swisscom und Post nur bescheiden bedient. Die beiden Ex-Monopolisten schreiben seit Jahren satte Gewinne. Allein im letzten Jahr hat die Post einen Konzerngewinn von 825 Millionen Franken ausgewiesen. 2007 waren es gar 909 Millionen Franken. Das Geld floss vorab zum Eigenkapital der Post und in die Sanierung der Pensionskasse. Der Bund liess sich als Alleineigner nur 200 bzw. 300 Millionen überweisen. Vor 2007 durfte die Post sogar jeweils den ganzen Gewinn für sich behalten.
Auch bei der Swisscom gibt sich der Bund als Mehrheitsaktionär zurückhaltend: Der Telecom-Riese durfte trotz guten Jahresabschlusses 2008 (Betriebsgewinn: 4,79 Mrd. Fr., Reingewinn: 1,75 Mrd. Fr.) die Ausschüttung an die Aktionäre kürzen. In die Bundeskasse flossen 560 Millionen Franken – 30 Millionen weniger als im Vorjahr.
Damit wird klar: Die bundesnahen Betriebe stärker anzuzapfen, steht nicht zur Debatte. Nicht mal befristet zu Gunsten der IV. Auch beim Bund stimmt man lieber das falsche Lied der Finanznotlage an und lässt die Konsumenten noch kräftiger zur Ader. Das ist bequemer. Dabei ist unbestritten: Die hohen Gewinne von Swisscom und Post stammen von den Konsumenten, die gezwungen sind, überteuerte Tarife zu zahlen.